Dieser, heute sich als wüstes Steingebilde auftürmende Felsklotz war ehedem das Gärtchen eines wunderschönen, keuschen Mädchens, Vrineli geheissen. Die herrlichsten Alpenblumen zierten es, die Früchte an den Bäumen waren nochmal so süss wie drunten im Tal ihrer Schwestern, und innige, stille Freude umwob das liebliche Wesen, dessen Pflege die Flur unterstellt war. Damit nun keines Frevlers Blick das holde Mädchen streifen könne, hatte der Vater, welcher als mächtiger Berggeist die Alpen ringsum beherrschte, einen Kranz steiler, unzugänglicher Felsen um das blühende Heim seiner Tochter gezogen. Diese Mauern stehen heute noch. Jeder, der auf den Glärnisch klettert, kann sie mit eigenen Augen sehen.
Ein kühner Bursch aus Glarus nun, der gelockt von der Schilderung der Gemsjäger, die das schöne Mädchen von ferne erblickt haben wollten, Tag und Nacht nicht zur Ruhe kommen konnte, machte sich eines Morgens auf, die grause Felsenburg zu erklimmen. Sie liebten sich vom ersten Blick an, und Vrineli verbarg ihn vor dem Auge des Vaters. Aber dieser witterte Unheil. Er flog zum Schein über die Berge, kehrte aber unvermutet wieder zurück und fand das Paar in zärtlichster Umschlingung. Sein untilgbarer Hass gegen das Menschengeschlecht, das ihm seine Gemsen tötete, machte ihn unerbittlich. Er schleuderte den Burschen über die hohe Wand hinab und verwandelte sein schluchzendes Töchterlein in einen grauen Felsklotz. Und nur, so erzählt die Sage, wer in Liebe dreimal den richtigen Stein küsst, kann das schlafende Kind wieder zum Leben erwecken. Tausende von Steinen liegen auf dem Gärtli, Eis und Schnee hat der zürnende Vater darüber gegossen. Wer weiss, wie lang die Geschichte schon her ist!
Quelle: K. Freuler, H. Thürer, Glarner Sagen, Glarus 1953
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch