Die Bauern auf der Lachenalp hörten nachts oft ein Ross vorbeitraben, doch wagte es niemand, das geisterhafte Pferd zu beobachten. Ein Hüterbub, der von allem nichts wusste, erwachte auch einmal wegen des lauten Getrappels und Wieherns und streckte den Kopf zum Trilfensterchen hinaus. Zu seinem Erstaunen sah er einen Schimmel hinten auf die Alp herniedertraben, geradewegs auf die benachbarte, leere Hütte zu. Dort blieb er bockstill stehen, wieherte leise und wandte zuweilen den Kopf nach der Hüttentüre, als ob er auf jemand warte. Wirklich öffnete sich die sonst fest verschlossene Türe — heraus trat ein schlankes, schwarz gekleidetes Fräulein. Auf seinem Kopf sass eine kleine funkelnde Krone, unter der das Haar in dunkeln Wellen herabfiel. Die Fremde sprach kein Wort, sondern schwang sich, nachdem sie das Tier liebreich getätschelt hatte, in den Sattel. Gleich tänzelte der Schimmel auf die Wiese, sprang übermütig über Steine und Blöcke, als wollte er die Reiterin abwerfen. Doch diese schien an dem waghalsigen Ritt die grösste Freude zu haben und trieb den Gaul immer wieder über die mondhelle Weide. Erst als der Mond hinter die Berge sank, verschwanden Ross und Jungfrau.
Die Sennen, denen der Hüterbub sein Erlebnis anderntags erzählte, waren nun überzeugt, dass eine Verwunschene auf der Alp geistere. Hätten sie die schöne Reiterin einmal angesprochen, so wäre sie vielleicht erlöst worden. So aber musste sie bis zum ersten Allerseelentag warten. Nachher wurde sie nie mehr gesehen.
Quelle: K. Freuler, H. Thürer, Glarner Sagen, Glarus 1953
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch