Eine Mutter von Zeneggen hatte ein Kind, das sie mit allem Fleiss und inniger Mutterliebe pflegte, aber es wollte nicht gedeihen. Es blieb immer der kleine Knirps, und noch nie war aus seinem Mund ein einziger Laut vernommen worden. Ganz verdriesslich besuchte die Mutter ihre Nachbarin. «Ich weiss nicht», sprach die betrübte Frau, «was ich mit meinem Kinde anfangen soll. Es scheint gescheit zu sein; es versteht mich, aber reden will es nicht.» Die Nachbarin bemitleidete sie herzlich und erteilte ihr den Rat, das Kind in die Stube zu setzen, ihm viele halbe Eierschalen zur Unterhaltung vorzulegen und dann heimlich zuzuschauen, wie sich das Kind benehme. Die Mutter tat es. Wie war sie aber hocherfreut, als das Kind staunend ausrief: «So vill Häfelini häni noch nie gseh!»
Abermals hielten die beiden Frauen Rat. Es war ihnen der Verdacht aufgestiegen, es sei das eigene Kind gestohlen und ein Zwergkind unterschoben worden. Nun gab die Nachbarin der geängstigten Mutter nochmals den Rat: «Nimm das Kind und geh damit auf den Bielhügel und peitsche es derart durch, dass das Geschrei weithin gehört wird; aber habe kein Erbarmen; dann wirst du vielleicht dein Kind wieder erhalten.» Die Mutter tat, wie ihr geraten wurde. Auf das Geschrei des misshandelten Kindes eilte nun aus dem nächstgelegenen Hause eine Gogwärgifrau herbei. Sie trug ein schönes, wohlgewachsenes Kind auf den Armen. Als die unbarmherzige Mutter noch derber auf das Kind einschlug, warf die Gogwärgifrau das Kind, das sie trug, ihr vor die Füsse und rief voll Entrüstung: «Säh, nimm du das deinige und ich das meinige, du unbarmherziges Muotterli!!»
ZENEGGEN
Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch