Vor vielen, vielen Jahren hütete ein Hirt von Varen in der Alpe Chermignon das Vieh. Eines Abends fehlte ihm beim Heimtreiben das schönste Rind der ganzen Alpe. Und da er nur zwischen zwei Dingen zu wählen hatte, entweder das Tier zu suchen oder dem Besitzer von seinem Abgange zu berichten, so machte er sich noch am selben Abend todmüde und hungrig auf die Suche.
Nach stundenlangem, vergeblichem Herumirren kam er gegen Mitternacht zu einer abgelegenen Hütte und legte sich dort zur Ruhe. Doch kaum war der Todmüde eingeschlafen, so hörte er unten im Stalle herumrumpeln; und wie er sich erhob und neugierig durch eine halbblinde Scheibe guckte, sah er, dass sechs Männer in schwarzen Kleidern und weitkrämpigen Hüten das verlorene Rind aus dem Stalle führten.
Die Männer entfalteten bald eine geschäftige Tätigkeit. Der eine zündete ein lohendes Feuer an, der zweite schleppte einen gewaltigen Kessel herbei, ein dritter deckte sorglich den Tisch, ein vierter trug in einem grossen Zinnkruge Wein herbei, die zwei letzten schlachteten behende das herrliche Rind.
Da graute es dem Hirten, und er wollte sich eben erschreckt unter die Decke seines Lagers verkriechen, als ihm einer der Männer mit der Hand winkte.
Wie mit Gewalt zog es ihn aus der Hütte in den Kreis der Männer. Die unheimliche Gesellschaft setzte sich an den Tisch, und trotz des Heisshungers meinte der Hirt, es bleibe ihm jeder Bissen des vorgesetzten Fleischstückes im Halse stecken. Allmählich löste der Wein aus dem schweren Kruge die Zungen der düstern Gäste. Grässliche Gespräche flogen von einem Tischende zum andern, und ihr Lachen widerhallte an den nahen Felswänden. Gegen Morgen aber wurden die fröhlichen Gesellen stiller, und wie das erste Grau über die Berge huschte, da löschte die züngelnde Flamme jäh aus. Tisch und Gerät und die unheimlichen Gestalten verschwanden.
Der Hirt stand allein frierend vor der Hütte, neben ihm aber muhte das verlorene Rind heil und wohlbehalten, nur an der hintern Lende fehlte das Stück Fleisch, das der Hirt beim Mahle verzehrt hatte.
VAREN
Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch