Folgendes ereignete sich vor vielen hundert Jahren auf Stalden in Gurtnellen im Kanton Uri. Es lebte da eine Jungfrau, die fromm und brav war, und ein eigenes Gut frei und frank besass, denn ihre Eltern waren gestorben. Zwei Jünglinge warben um ihre Hand. Den, welcher ihr als der Beste erschien, wählte sie. Nach der Brautnacht stand der Mann früh, bevor es völlig tagte auf, währenddem seine junge Frau noch schlief. Er schaute zum Fenster hinaus und glaubte, seinen verschmähten Mitbewerber vor der Haustür tot liegen zu sehen. Darüber, obwohl es nur Täuschung war, erschrack er so sehr, dass er sich anzog und weit fortging gegen Welschland, ohne der Frau noch jemandem etwas zusagen. Im Welschland kam er zu einem guten Bauern und diente demselben 24 Jahre lang treu und redlich, sagte aber niemals etwas von seinem Schicksal. Seine Frau stellte über den verschwundenen Mann umsonst ihre Nachforschungen an, es blieb ihr grosses Herzeleid. Endlich, nach den 24 Jahren wandelte den Mann ein grosser Drang an, nach Hause zu gehen und er sagte seinem Herrn, er müsse nach Hause und könne da nicht mehr länger aushalten. Jener antwortete: Wie ungern er ihn auch entlasse, so könne er ihm doch nicht dagegen sein. Er gab ihm einen eingewickelten Zelter zum Lohn, mit dem Bedeuten, er solle diesen Zelter nicht öffnen, bis er Freude habe; soll sich zweimal besinnen, ehe er was tue; wenn er etwas wolle, sich nicht gleich abspeisen lassen und im Zorn nicht strafen. Als er damit nach Hause kam, ging er nicht in das Haus seiner Frau sondern zum Nachbar, und sass allda an ein Fenster hin, wo er gerade in sein Haus hinüber sah. Da schaute er seine Frau ganz herrlich gekleidet, schaute, wie sie einen jungen Menschen recht oft küsste und umarmte und das Ding machte ihm so hitziges Blut, dass er alle Augenblicke glaubte, er wolle hinüber und die Frau samt dem Buben erstechen. Doch er besann sich zweimal: Nun endlich kam der Nachbar und erzählte ihm, den er nicht kannte, dass diese Frau gleich nach der Brautnacht den Mann verloren und nie mehr etwas von ihm vernommen. Aber sie habe von ihm einen Sohn erhalten, welcher studiert habe, geistlich geworden sei und nun morgen hier die erste heilige Messe lesen werde. Eben jetzt sei er vom Bischof heimgekommen und die Mutter habe ihn herzlich umarmt und er sie. Nun dachte der Mann: das ist was anderes. Er ging hinüber und bat da über Nacht bleiben zu dürfen. Aber man wies ihn ab; er jedoch liess sich nicht abweisen, er wollte hinter den Ofen liegen. Endlich liess man ihn. Nach und nach erzählte er aus seinem Leben, gab sich zu erkennen und nun wurde die Freude noch grösser, ja vollkommen und er öffnete den Zelter, der voll Geld war.
Quelle: Alois Lütolf, Sagen, Bräuche, Legenden aus den fünf Orten Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden und Zug, Luzern 1865. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch.