Wie ein schönes Märchen klingt die Erzählung von einer längst entschwundenen goldenen Zeit. Damals sah es in Zermatt und Umgebung ganz anders aus als heutzutage. Keine rauhe Gletscherluft wehte durch das Tal, und die goldenen Früchte des Südens reiften hier in Menge. Das Dörflein Zmutt stand im Schatten reicher Obst- und besonders Nuss- und Kastanienbäume. Weiter hinten im Tale lag das Dorf Tiefenmatten. Jetzt liegt darüber ein gewaltiger Gletscher: der Tiefenmattengletscher.
Vom Zmuttal führte eine gepflasterte Strasse über den Col d’Ering nach Evolène und Sitten. Über diesen Pass hinüber gingen die Zermatter oft bis nach Sitten zur Messe. Selbst eine Prozession nach der Landeshauptstadt fand jährlich auf diesem Wege statt. Unter dem Hörnli bei der Eselbalme sieht man noch jetzt Spuren dieser Strasse.
Auf der schönen Ebene, wo sich heute der Theodulgletscher ausdehnt, stand in vordenklicher Zeit eine prächtige Stadt. Als der ewige Jude auf seiner Wanderung dort zum ersten Male vorbeikam, wollte ihn niemand aufnehmen. Sein Fluch hatte die Vergletscherung der Stadt zur Folge. Oft sieht man in mondhellen Nächten die Seelen der untergegangenen Bewohner wie weisse Nebel über den Gletscher hinschweben.
Mancher Wanderer ist von ihnen schon irregeführt worden, so dass er auf den weiten Eisfeldern sein Grab fand. Am Fusse des Gletschers aber entdeckt man in heissen Sommern, wenn der Schnee stark weggeschmolzen ist, menschliche Gebeine welche der Gletscher ausgeworfen hat.
Das Tal des Gornergletschers und die Gegend um den Monte-Rosa herum war in jener märchenhaften Zeit ganz mit reichen Waldungen bewachsen. Gemsen und Steinböcke waren darin oft in ganzen Herden anzutreffen. Es zog eine gangbare Strasse vom Theodul her dort vorbei und führte bis nach Findelen. Die Saumpferde, die von Augsttal kamen, verliefen sich in jenen Waldungen, so dass die Säumer sie oft stundenlang nicht mehr zurückfanden. In Findein, "in de Riebjinu" reifte der köstlichste Wein. Es soll noch nicht lange her sein, dass man dort Weinstöcke aus der Erde grub. Auch Nussbäume standen in jenem Tal. Man wollte in Findelen noch vor fünfzig Jahren eine Tischplatte zeigen, welche angeblich von einem dortigen Nussbaume stammte.
ZERMATT
Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch