Die älteren Leute erzählen noch gerne Erinnerungen ihrer Ahnen aus der Zeit des grossen Durchzugs. Danach sollen im Juni 1815 achtzigtausend Österreicher im Eilmarsch über den Simplon gezogen sein. Sechs Mann hoch seien sie in einer Kolonne marschiert: Die Spitze war schon im Berisal, als die letzten in den ,Ramsernukehren‘ die Gondoschlucht verliessen.
Diese Armee schadete den Dorfbewohnern wenig, dagegen stahl zahlreich nachfolgendes Gesindel alles, was es nur erwischen konnte, und zerstörte vieles mutwillig.
Für diesen Schaden, und vielleicht auch für den früher durch die Franzosen erlittenen, sollen später dem Dorfe Entschädigungen entrichtet worden sein. Sie wurden aber nie verteilt. Ein französisch sprechender Unterhändler brachte eine grosse Summe ins Dorf und verhandelte mit einem Vorsteher oder Grossen des Dorfes über den Schadenersatz. Dann zahlte er in bar; der Verhandlungstisch war mit Geld fast vollständig besetzt. Der alte Vorsteher holte dann einen ,ristinen Sack‘, stemmte ihn mit einer Hand am Tischende fest, hielt ihn an der Gegenseite mit seinen Zähnen offen und wischte mit der andern Hand das Geld behend in den Sack.
Der Unterhändler fragte wiederholt: «Est-ce que c’est tout paye? Est-ce que c’est tout paye?» Darauf antwortete der Gewaltshaber mit seiner hohen, näselnden Stimme: «Oui, oui, c’est tout paye! Oui, oui, c’est tout paye!», warf den Sack mit dem Geld über die Achsel und verliess glücklich lächelnd das Zimmer.
Die Dorfbewohner sahen aber nichts von diesem Segen. Alles sollte natürlich geheim bleiben, aber der Hirte des Dorfvorstehers hatte dem Handel zugehört und plauderte später aus.
SIMPLON-DORF
Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch