Beim Wylerbach bemerkte man früher einen unheimlichen Geist, der die Vorübergehenden in der Nacht beunruhigte. Was für eine Sünde der Geist abzubüssen hatte, wusste man nicht; doch mag er im Leben stolz und hoffärtig gewesen sein, weil er gerade den Prahlern und Grosssprechern am meisten zusetzte.
Einst war es tiefer Winter, als ein Mann von Münster dort spät vorübergehen wollte, um sich nach Hause zu begeben. In Ulrichen, wo er aufbrach, warnte man ihn, dass er ja nicht so spät über den Wylerbach gehe. Aber der Münstiger machte sich breit und gross; er fürchte nichts und glaube an keine Geister. Mit der Grosstuerei ging er auf den Weg. Aber der Geist hatte seine Reden gehört und lauerte ihm auf. Plötzlich hörte der nächtliche Wanderer ein Pfeifen, Zischen und Schreien, wurde am Halse gepackt und zu Boden geworfen. Er aber wehrte sich und sein Streit mit dem Bozen war so verzweifelt, dass eine ganze Strecke weit der Schnee aufgewühlt und zertreten wurde.
Leute, die des andern Tages vorübergingen, konnten sich über den sonderbar zugerichteten Kampfplatz nicht genug verwundern. Der Münstiger aber, der diesmal mit heiler Haut davongekommen war, stellte seine Grosstuerei ein und getraute sich später nicht mehr, in nächtlicher Stunde allein beim Wylerbach vorüberzugehen.
Im Wylerbach war früher auch ein Bozen, der die Leute neckte und "stellte". Das passierte mir selber einmal. Das war 1920. Ich hatte mit meinen Verwandten in Geschinen etwas zu besprechen. Am Abend so um halb elf Uhr zog ich von dort los, um nach Ulrichen zurückzukehren. Die Verwandten begleiteten mich noch ein Stück weit in "dUnghiirig Schlüocht". Dann ging ich allein auf der Strasse weiter.
Auf der Strecke gegen den Wylerbach betete ich den Englischen Gruss, denn es hiess immer, weil die Muttergottes gerade weiter oben in der Kapelle sei, solle man hier den Englischen Gruss beten. Ich kam zum Wylerbach und immer weiter und weiter. Ich hörte die Uhr des Kirchturms schlagen, war aber noch immer nicht zu Hause. Da dachte ich mir. «Ich bin doch auf der Strasse, um Gottes willen!» Und ich war nicht etwa betrunken. Ich ging immer weiter und weiter und wurde immer müder, und die Füsse wurden schwerer. Am Morgen gegen Betenläuten kam ich endlich an und fiel fast wie zur Stube hinein.
Die Frau fragte mich: «Was ist jetzt mit dir los?» Ich war furchtbar müde und sagte: «Schau mal, wie spät ist es?» - «Fünf Uhr.» - «Ja was fünf Uhr, jetzt bin ich um halb elf Uhr von Geschinen weg und seither immer gegangen. Ich habe mich nirgends gesetzt.» Aber es war fünf Uhr. «Das ischt mier sälber
käpittiert» (vorgekommen).
Sonst legt man die Strecke in einer Stunde leicht zurück. Der Geist in dieser Schlucht soll zu Lebzeiten Marchen versetzt haben. Jetzt muss er dort büssen.
ULRICHEN
Quelle: Walliser Sagen, gesammelt und herausgegeben von Josef Guntern, Olten 1963, © Erbengemeinschaft Josef Guntern.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch