Es war einmal ein armer Fischer, der lebte mit seiner Frau in einer armseligen Hütte. Eines Morgens ziemlich in der Frühe ging er fischen. Er warf das Netz aus und machte einen guten Fang. Zwischen den andern Fischen lag auch ein Goldfischlein. Als der Mann die Hand ausstreckte um es zu erwürgen, rief es: «O lieber Fischer, bring mich nicht um! Lass mich leben, und zum Dank kannst du dir wünschen, was dir am meisten am Herzen liegt! Du gehst nur ans Wasser und rufst: "Goldfischlein, o komm - einen Wunsch ich hab." Ich schwimme dann ans Ufer, und wenn es irgendwie möglich ist, geht dein Wunsch in Erfüllung.» - «Wenn dem so ist», sagte der Mann, «so weiss ich, was ich mir wünsche: ein schönes Haus und genug zum Leben.» - «Das sollst du bekommen», sagte das Fischlein. Und tatsächlich, bei seiner Rückkehr stand ein schönes Haus an Stelle der armseligen Hütte. Und zuerst war alles schön und gut. Aber nicht lange, denn ziemlich rasch begann die Frau zu überlegen, was sie sich noch wünschen könnten. Und schliesslich meinte sie, das Allerschönste wäre es, wenn sie König und Königin würden. In einem Schloss wohnen, über viel Gesinde befehlen, eine schöne, von vier Schimmeln gezogene Kutsche und ein Diener in Livree, üppige Festessen mit den grössten Herrschaften, das würde ihr wohl gefallen. Dann wäre sie wirklich glücklich und zufrieden, dachte sie. Und der Mann liess sich überzeugen und ging ans Ufer des Sees. Als das Fischlein hörte, was er sich wünschte, sagte es: «Es gefällt mir nicht, dass du solche Wünsche hast. Ich habe geglaubt, es ginge euch jetzt gut genug mit eurem schönen Haus und allem, was ihr zum Leben braucht. Doch ein gegebenes Wort kann nicht zurückgenommen werden – so will ich auch diesen Wunsch erfüllen.» Und tatsächlich, bei seiner Rückkehr fand der Fischer alles genau so vor, wie er sich gewünscht hatte. Doch die anspruchsvolle Frau war immer noch nicht zufrieden. «Noch schöner», dachte sie, «wäre es, der Herrgott zu sein und über alle Lebewesen befehlen zu können, über alle Völker der Erde.» Der Mann widersetzte sich, mit diesem Wunsch zum Fischlein zu gehen. Die Frau lag ihm jedoch ständig in den Ohren, und schliesslich gelang es ihr, ihn umzustimmen. Er ging ans Wasser, rief dem Fischlein und erzählte ihm ihren brennenden Wunsch. Aber das Fischlein sagte zu ihm: «Es gefällt mir überhaupt nicht, dass du mit einem solchen Wunsch kommst. Geh jetzt nach Hause, und dort wirst du das, was du verdient hast, vorfinden.» Und der Mann machte sich auf den Weg zu seinem Schloss; doch was war dort an Stelle jenes prachtvollen Gebäudes? - seine alte armselige Hütte!
(Oberengadin)
Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.