In einem kleinen Dorf wohnten ein Mann und eine Frau, die hatten zwei Söhne, Giachem und Gian. Giachem war ein guter Kerl, aber eher ein wenig dumm, während Gian gescheiter, aber auch schlechter war. Die Eltern besassen ein schönes Gut und hatten zwölf Kühe im Stall. Nach dem Tod der Eltern kamen die Brüder nicht gut miteinander aus. Gian war habsüchtig und wollte alles für sich haben; er gönnte Giachem nichts und verlangte sogar, dass dieser alle groben Arbeiten ganz allein machte. Nun baute Gian einen neuen Stall, und als es darum ging, die zwölf Kühe zu teilen und Gian sich nicht mit der Hälfte zufrieden geben wollte, sagte er zu Giachem: «Hör zu, ich will dir einen Vorschlag machen. Wir wollen heute die zwölf Kühe allein zum Brunnen gehen lassen, und wenn sie zurückkommen, öffnen wir die Tore des alten und des neuen Stalles. Die, welche in den alten Stall gehen, werden dir gehören, und jene, welche in den neuen gehen, mir. Bist du damit einverstanden?» Gian dachte bei sich: «Ganz gewiss gehen alle in meinen schönen neuen Stall.» Giachem war einverstanden und - tatsächlich - an jenem Tag gingen die Kühe allein zum Brunnen. Gian stand am Fenster und schaute mit einem boshaften Lächeln auf die Kühe hinunter. Aber schon bald lachte er nicht mehr - denn die Kühe kehrten, eine nach der andern, in den alten Stall zurück - nur eine einzige, neugierige alte wandte sich dem neuen Stall zu und ging da hinein. So musste sich der gescheite und schlaue Gian mit einer hässlichen und alten Kuh begnügen, während Giachem die elf andern erhielt. Gian hatte eine schreckliche Wut auf seinen Bruder, aber er konnte nichts machen, denn er selbst hatte es gewollt, dass die Kühe auf diese Weise geteilt würden.
Eines schönen Tages nun machte Giachem Hausmetzg und schlachtete eine Kuh. Die Haut breitete er auf dem Dachboden zum Trocknen aus. Als sie trocken war, nahm Giachem die Kuhhaut und brach auf, um sie in der Stadt zu verkaufen. Gegen Abend kam er in einen dichten Wald, und da es bereits zu dunkeln begann, kletterte er auf einen Baum, um die Nacht dort oben zu verbringen. Da sah Giachem auf einmal eine Bande bewaffneter Männer mit Laternen durch den Wald hinunter schleichen. Sie kamen bis zu seinem Baum, und gerade darunter setzten sie sich und begannen, ihre Goldstücke zu zählen. Giachem merkte sogleich, dass es eine Räuberbande war. Vor Angst begann er zu zittern wie Espenlaub, so dass er fast nicht mehr im Stande war, die Kuhhaut zu halten. Und - tatsächlich - auf einmal liess er sie fahren, und mit einem schrecklichen Getöse fiel die dürre Haut vom Baum. Als die Räuber dieses Riesending herabfliegen sahen, sprangen sie alle auf, und mit dem Schrei: «Flieht, flieht, das ist der Teufel!» rannten sie davon, ohne an ihre Goldstücke zu denken die sie unter dem Baum ausgelegt hatten. Sobald Giachem sah, dass alle weg waren, kletterte er vom Baum und stopfte sich die Hosentaschen mit Goldstücken voll. Doch dann liess er unter den Füssen kein Gras wachsen und kehrte so rasch als möglich nach Hause zurück.
Am nächsten Tag lieh er sich von Gian eine Waage, um das Geld zu wägen. Als Giachem sie zurückgab, fand Gian auf der Waagschale eine Goldmünze. «Sackerment», dachte er, «dieser Trottel hat Goldstücke gewogen! Wer weiss, wo er die her hat?» Am Nachmittag ging er hinüber in Giachems Stube, um herumzuschnüffeln. Giachem erzählte ihm alles offen, und Gian dachte: «Wenn es diesem Einfaltspinsel so gut gegangen ist, so wird es mir noch besser gehen.» Und - tatsächlich - am andern Tag schlachtete er seine Kuh; aber die Habsucht war so gross, dass er nicht warten konnte, bis die Haut dürr war. Schon am nächsten Morgen nahm er die Kuhhaut und ging in den Wald. Giachem hatte ihm genau erklärt, wohin die Räuber gehen würden. Und sie sind wirklich gekommen. Als Gian all die schönen Goldstücke sah, welche die Räuber unter dem Baum ausbreiteten, begannen seine Augen vor Gier zu glänzen, und ganz sacht nahm er seine Kuhhaut und warf sie hinunter auf die Räuber. Er glaubte ohne weiteres, die Räuber würden wieder fliehen, aber diesmal kam es anders. Da die Kuhhaut nicht dürr war, fiel sie nur langsam und geräuschlos zu Boden, und so jagte sie den Räubern keine Furcht ein. Die sprangen auf, und als sie Gian auf dem Baum sahen, schrien sie: «Aha, jetzt haben wir den Schuft, der unser Geld geklaut hat. Mach, dass du sofort herunterkommst!» Aber Gian rührte sich nicht da oben. «Wenn du nicht subito parierst, so feuern wir ein paar Schüsse nach oben, dass du sicher herunterkommst, wenn nicht lebendig, dann tot!» - Nun konnte er nicht anders, als herunterzusteigen. Kaum stand er auf dem Boden, so packten ihn die Räuber und verprügelten ihn schrecklich. Dann jagten sie ihn zum Wald hinaus. Halb tot gelangte Gian nach Hause, und da er einsah, dass er mit seiner ganzen List nie so viel ausrichten konnte wie Giachem, schloss er Frieden mit ihm, und von da an vertrugen sie sich immer gut - und das Märchen ist zu Ende.
(Oberengadin)
Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.