Einst lebten die Zürcher mit ihren Eidgenossen in böser Fehde. Nämlich, sie hatten sich mit ihnen, mit den Schwyzern vorab, einer großen Erbschaft wegen völlig entzweit. Beide beanspruchten die Länderherrlichkeit des verstorbenen Grafen von Toggenburg, des letzten seines Stammes. Und weil es eine draufgängerische Zeit war, gedachten sie den Streithandel gleich mit dem Schwerte auszutragen. Und da die Zürcher inne wurden, dass die übrigen eidgenössischen Orte eher Schwyz recht gaben, verbündeten sie sich mit dem Herzog von Österreich zu Schutz und Trutz, und also war der Krieg gemacht.
Obwohl sich nun die Zürcher gar tapfer hielten, wollte es ihnen doch nicht gelingen, zu einem siegreichen Ende zu kommen; umso weniger, als ihnen Österreich nur wenig Beistand leistete, So hatten sie sich denn der ergrimmten Eidgenossen ziemlich allein zu erwehren.
Also kam es, dass diese eines Tages gegen die wohlbefestigte Stadt Zürich heranzogen. Die Zürcher aber fürchteten sich nicht. Sie rückten, ohne die österreichischen Ritter, die sie in ihren Mauern hatten, um Hilfe anzugehen, todesmutig vor ihren Stadtring, um die Hirten der Bergstände im Freien zu erwarten. Sie lagerten sich jenseits der Sihl, und da es eben ein heißer Tag war, ließen sie sich aus der Stadt in Gelten und Weintansen den jungen wohlgeratenen Wein zutragen und sprachen ihm so fleißig zu, dass sie gar guter Dinge wurden und zu singen und lärmen anhuben.
Da brachen auf einmal die Schwyzer und Glarner mit „Haarus!“ durch den Grünhag und fuhren also auf die übel überraschten Zürcher los, dass diese in arge Verwirrung gerieten. Zwar stellten sie sich mannhaft, doch vermochten sie dem ungestümen Anlauf der Bergler nicht standzuhalten, um so weniger, als die übrigen Eidgenossen aus den Ländern mit Wucht nachdrückten. Jetzt erinnerten sie sich wieder ihrer sichern Mauern und liefen wie Hirsche über den Sihlsteg dem Rennwegtor zu.
Aber ein Mann, dem es zunächst an Ehre und Ansehen ging, Bürgermeister Stüssi, ein riesiger Krieger, stellte sich auf den Steg und hämmerte den anstürmenden Schwyzern und ihren Helfern also auf de Blechhauben, dass sie ihn für einen Grobschmied nahmen, denn es war ihnen nicht anders, als ihre Köpfe hätten sich in Ambosse verwandelt. So groß war das Heldentum dieses Mannes, dass auch nicht ein Schuh über den Steg kam. So ermöglichte er’s dem Gewalthaufen der Zürcher, sich rechtzeitig in die Stadt zu retten. Jedoch, ein Habicht unter hundert Krähen ist nicht wohl aufgehoben. Es gelang den wilden Burschen aus den Bergen, den Riesen vom Steg ins Flüsslein zu reißen, wo er in Ehren seinen Tod fand.
Jetzt aber fegte der Sturm wieder hinter den Zürchern her und zwar so, dass die vordersten der feindlichen Krieger noch mit den fliehenden durchs Stadttor kamen. Das Tor stand sperrangelweit offen, niemand hätte es mehr zu schließen vermocht. Noch ein kurzer Anlauf, und die Stadt wäre dem wie ein Rudel Wölfe heranstürmenden Hirtenvolk geworden und in Schande untergegangen.
Aber als nun alles hulterpulter ging, und alle Mannsleute der Stadt den Kopf verloren zu haben schienen, da gewahrte eine mutige Frau, namens Anna Ziegler, den drohenden Jammer.
Mit Mannskraft und behender als ein Schlänglein, wusste sie sich durch den flüchtenden Haufen zum Tor zu helfen. Und ebenso behend und flinker als ein Hühnchen vor einem Fuchse, machte sie sich die Stiege hinauf in des Torwarts Kammer und ließ: rätsch, tätsch! den schweren eichenpfähligen Fallgatter niederrasseln, also dass die wütend anstürzenden Feinde ihre Blechhüte und Köpfe daran zerbeulten. Wie sie auch auf den dicken Gatter loshieben und lospütschten, nicht einer kam mehr in die Stadt.
Als nun die erschrockenen Zürcher inne wurden, dass ihre Feinde nicht mehr nachdrängen konnten, ermannten sie sich. Sie hasteten zurück und auf die Wälle, von wo sie mit Schießen und Werfen die Hirten vertrieben. Andere eilten ans Tor, bei dem sie die wenigen eingedrungenen Feinde erschlugen. Einer von diesen, Landschreiber Küng von Glarus, hatte, sobald er den Gatter fallen sah, ein erobertes Fähnlein zwischen den Pfählen des Gatters hindurch, seinen Freunden zugesteckt und war dann als ein aufrechter Sohn der Berge gefallen.
Nun tummelten sich die Zürcher gar sehr und bald hatten sie den Feind völlig von den Stadtmauern weggebracht, der nun in ohnmächtiger Wut draußen brannte und schließlich abzog.
Also hatte die Geistesgegenwart und die rasche Hand einer tüchtigen Frau die Stadt von Unehre und Jammer behütet.
Darnach sind die Zürcher mit ihren Eidgenossen bald wieder eins geworden, und sie sind dann in gar mancher Schlacht durch das Blut ihrer gemeinsamen Feinde zusammengeschweißt worden, fester als je. Dass es so bleibe, das walte Gott!
Meinrad Lienert, Zürcher Sagen. Der Jugend erzählt, Zürich 1918.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.