Vrenelis Gärtlein

Land: Schweiz
Region: Knonaueramt
Kategorie: Sage

Unter dem Albispass, im abseitigen traulichen Knonaueramt, das auch noch einen lustigen Übernamen hat, liegt ein stilles Bergwasser, der Türlersee. Obwohl er einen mit dem schönsten Blauauge der Welt ansehen kann, hat er doch auch Zeiten, besonders gegen Abend, wo er düster drein schaut. An seinem lieblichen, obstbewachsenen Umgelände wachsen seltene Blumen, und in den nahen Wäldern blüht gar der merkwürdige Aronstab.

Vor alten Zeiten nun gehörte dieses eigenartige Seelein, samt allen umliegenden Gütern, einer vornehmen Frau, die man Frau Vrene nannte. Sie war eine umtunliche, aber auch hoffärtige Frau, die keinen Spaß verstand und gerne allüberall den Meister gemacht hätte.

So war’s denn kein Wunder, dass sie sich mit den Helfenschwilern, die unter ihrem See im Jungalbis hausten, überwarf, und dass sie ihnen, der Landmarkung wegen in böse und langwierige Streitigkeiten geriet. Und dass sie zwar einen harten Kopf, die Helfenschwiler Bauern aber auch keine Butterstöcke auf den Schultern hatten, kamen sie immer mehr auseinander und fingen an, sich zu Leid statt zu Lieb zu leben, wie es doch gerade Nachbarn, die sich immer wieder brauchen können, am zuträglichsten wäre. Als nun die Bauern im Weiler Helfenschwil, der am Flüsschen Jona lag, sich immer steckköpfiger gegen sie aufführten und ihre Grenzen wenig mehr in acht nahmen, wurde sie schier krank vor Ärger. Also gab sie der ruhigen Besonnenheit, die doch eines Menschen beste Waffe zu Wehr und Abwehr ist, den Laufpass, indem sie beschloss, den ungeheuer tiefen Türlersee durchs Jungalbisgebiet in die schönen Güter ihrer Widersacher in Helfenschwil abzuleiten, auf dass seine Wasser dort alles für ewige Zeiten in einen Sumpf verwandeln sollten.

Weil sie aber mit dieser schweren Arbeit selber zu keinem Ende gekommen wäre, rief sie vorbeiziehende fahrende Schüler in ihr Haus. Diese bewirtete sie aufs freigiebigste. Zuletzt schienen sie also von ihr eingenommen, dass sie ihr auf Anhalten versprachen, ihr bei der Ableitung des düstern Sees mit all ihren Künsten behilflich zu sein. Und da sie mehr verstanden als andre Leute, so ging’s nun mit dem Ableiten des unheimlichen Gewässers sehr rasch. Im Augenblick hatten die fahrenden Schüler einen höllentiefen Graben gemacht, und Frau Vrene stand immer bei ihnen und freute sich ihrer Behendigkeit. Und als nun der Graben bis hart ob die schwerbedrohten Güter ihrer Nachbarn ging, zog sich die stolze Frau feiertäglich an und begab sich zu den emsig arbeitenden fahrenden Schülern, denn nun sollte der letzte Spatenstich getan werden. Alsdann würden die verheerenden Wildwasser ausströmen und wie der Weltuntergang über die Nachbarn hinunterstürzen.

Wie sie nun, also aufgeputzt, zu den fahrenden Schülern kam, sah sie eben, wie einer von ihnen am äußersten Grabenende stand, und wie er just den Spaten hob, um mit Zaubergewalt den letzten Durchstich zu tun und die Flut zu entfesseln.

Als er aber ins Angesicht der schadenfroh grinsenden Frau Vrene sah, lachte er gellend auf. Er drückte ihr den Spaten in die Hand und umarmte sie: „Du musst mit mir, du magst wollen oder nicht!“, rief er aus, und alsobald kam ein Windstoß und nahm sie mit fort über den Albisberg, über den Zürichsee hinauf, dass der entsetzten Frau Hören und Sehen verging.

Wie sie wieder zu sich kam, fand sie sich oben am Glärnisch auf einer kurzrasigen, von Felsenmauern umgürteten Berghalde, die von den schönsten Alpenblumen bestickt und besternt war. „Da kannst du gartnern!“, sagte der fahrende Schüler zu ihr.

Auf einmal begann es zu schneien, und es schneite Tag und Nacht, bis sich der sonnenwarme Grünhang in einen hartkörnigen Firn und darnach in einen pickelharten Gletscher verwandelte.

Dort steht nun die hochmütige, unversöhnliche Frau Vrene mit dem Spaten in der Hand als eine Eissäule bis auf den heutigen Tag und hält voll Sehnsucht Ausschau nach den fernen grünen Höhen, in die der kleine, schwermütige Türlersee so schön eingebettet ist. Ihr Eisgärtlein aber heißt heute noch das Vrenelis Gärtlein.

 

Meinrad Lienert, Zürcher Sagen. Der Jugend erzählt, Zürich 1918.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

 

 

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