Es ist schon lange her, da schlug eines Sommers der Blitz in den Kirchturm von Rechthalten. Der Güggel wurde seines hohen Postens enthoben, machte einen Sturzflug und landete in des Herrn Pfarrers Hühnergarten, mitten unter dem gemeinen Hühnervolk. Deposuit potentes de sede. Das war kein grosses Unglück. Aber mit der Zeit begann man doch den Hahn zu vermissen, denn er ist so eine Art Wetterprophet. Man wusste jetzt nicht mehr, ob Luft oder Bise im Kehr sei, ob man schönes oder schlechtes Wetter zu erwarten habe. Die Bürgerschaft verlangte darum, er solle wieder an seinen Platz gestellt werden. Doch niemand getraute sich auf die Spitze des Turmes zu klettern und den Gestürzten in Amt und Ehren zu setzen. Endlich meldete sich ein junger Zimmermeister. Sein Anerbieten wurde freudig angenommen und ihm ein schöner Taglohn versprochen.
Der verabredete Tag kam. Das ganze Volk strömte auf den Dorfplatz, um dem kühnen Wagnis beizuwohnen. Erst wurden Leitern herbeigeschafft. Dann erschien der Zimmermann, hemdärmelig, einen breiten Gürtel um die Lenden und den neuvergoldeten Güggel auf den Rücken geschnallt. Ruhig stieg er die erste Leiter empor und gelangte auf den Rand des Kirchendaches. Eine zweite Leiter wurde angesetzt. Sie führte ihn auf den First der Kirche. Hier legte er die dritte an. Sie reichte bis an den Helm des Turmes. Die Spannung der Zuschauer wuchs mit jeder Sprosse, die er erklomm. Hilfsbereite, junge Leute stiegen mit einer vierten Leiter auf das Kirchendach und reichten sie dem verwegenen Zimmermeister hinauf. Der empfing sie, stellte sie mit kräftigen Armen an den Schindelpanzer des Turmes und befestigte sie. Jetzt stieg er Schritt um Schritt hinauf und gelangte bis an die Blechverkleidung des Turmes. Den Rest des Weges musste er kletternd zurücklegen. Das war ein kitzliges Unterfangen. Frauen und Mädchen durften nicht mehr zuschauen und eilten in die Kirche, um für das gute Gelingen der Sache zu beten. Der Zimmermann aber umfasste den Turm mit seinen sehnigen Armen und Ruck um Ruck kletterte er hinauf bis an den Helmknopf. Den zu überqueren war das schwierigste Stück der Arbeit. Man sah jetzt, wie der Meister die rechte Hand freimachte, sie über den Knopf streckte und ums Kreuz klammerte. Dann folgte in gleicher Weise auch die linke. Jetzt spannte und reckte er sich wie ein Wurm. Einen Augenblick lang hingen beide Beine in freier Luft, dann zog er die Knie bis unter das Kinn - ein Ruck - und der Helmknopf war bezwungen. Nun richtete er sich am Kreuze empor. Welch schöner Anblick das war, fast symbolisch zu nennen. Noch einen kräftigen Schwung, und er kniete auf den Armen des Kreuzes. „Juhu-u-u“, tönte es jetzt von der Höhe übers Dorf hinaus. „Juhu-u-u“, antwortete vielhundertstimmig das Volk und schwenkte Hüte und Taschentücher. Der kühne Kletterer band sich am Gürtel fest, dass er mit beiden Händen frei arbeiten könne. Dann schnallte er den Hahn los, steckte ihn sorgfältig auf die Spitze des Kreuzes und drehte ihn ein paarmal rundum. Das Werk war getan. Aus der Tiefe brauste der Jubel des Volkes herauf.
Nun begann der Abstieg. Der schwerste Teil war wieder das überqueren der Helmkugel. Abermals baumelten die Beine im leeren Raum, dann kreuzten sie sich unter dem Knopfe fest um den Turm. Eine Hand löste sich vorsichtig vom Kreuze und suchte tastend unter der Kugel einen Halt. Zögernd löste sich auch die andere - aber sie fand nicht gleich den gewünschten Griff. Der Körper verlor das Gleichgewicht und glitt in die unheimliche Tiefe. Von unten gellte ein Schreckensschrei. Auf dem breiten Turmhelm schlug der Unglückliche auf, rollte von da auf das Schindeldach der Kirche hinunter, schlittelte bis zum Rand des Daches und plumpste auf den Friedhof hinunter, just auf einen neugeschaufelten Grabeshügel. Man eilte hinzu, den Zerschmetterten aufzuheben. Aber wie staunten jetzt alle. Der Totgeglaubte stand selber auf, schüttelte sich und sprach: „I ha de süsch dum Wäg na welle - u nit gredi aha.“ Man staunte und staunte und konnte es nicht glauben, er war vom Sturze wirklich heil davongekommen. Bloss einige Schürfungen trug er als Andenken davon. Man zahlte ihm den versprochenen Lohn, und manch einer drückte ihm aus Freude noch freiwillig einen Batzen in die Hand.
Wie es so zu gehen pflegt, hatte das Ereignis noch ein Nachspiel. Statt in die Kirche zu treten und auf den Knien dem Herrgott für die wunderbare Rettung zu danken, begab sich der Zimmermann ins Wirtshaus, um beim Weine sich vom Schreck zu erholen. Er musste immer und immer wieder erzählen, wie alles gekommen sei. Der eine wollte wissen, wie viele Dörfer und Städte man von der Turmspitze aus sehe, der andere fragte nach den Bergen und der dritte nach den Seen. Der eine rühmte des Meisters Courage, der andere seine Kraft, und der dritte sagte, är müessi doch a zeeja Chätzer sy. So ging es stundenlang recht fröhlich zu. Der Gefeierte nahm nach und nach den empfangenen Lohn und die geschenkten Batzen aus der Tasche und liess dafür Wein auftragen. „Man wird schliesslich nicht alle Tage so gerühmt und verherrlicht“, dachte er. Neue Gäste kamen und wollten sein Erlebnis hören. Aber er erzählte es jedes Mal anders. Anfänglich sagte er, von der Turmspitze aus gesehen, seien die Menschen auf der Erde drunten nur so gross wie Katzen. Später sahen sie nur mehr wie Mäuse und endlich noch wie Mücken aus. Von der Höhe aus wollte er auch die Städte Freiburg und Bern erblickt haben. Nach und nach fügte er zu diesen noch Luzern, Zürich und Basel hinzu.
Im Eifer des Grosstuns ging er soweit, dass er behauptete, er sei eigentlich gar nicht abgestürzt, sondern mit Absicht hinuntergesprungen. Er habe wohl gewusst, dass das Schindeldach wie eine Federmatratze den Streich aufhalte und er habe die Mädchen einmal so „juscht welle mache z’gigge“. Als einige der Anwesenden ihm frei heraus sagten, das sei erstunken und erlogen, da schlug er wütend mit der Faust auf den Tisch, dass Gläser und Humpen tanzten und rief: „Der Tüful soll mi grad näh, wenn es nit a so ischt.“ Das hätte er nicht sagen sollen, denn der Teufel kommt, wenn man ihm ruft.
Spät in der Nacht wankte der Zimmermeister nach Hause. Das Bett konnte er nicht mehr finden. Er legte sich darum auf den Ofen und duselte ein. Im Schlafe aber fiel er wehrlos wie ein Sack voll Hudeln kopfüber auf den Boden hinunter, brach das Genick und war tot.
Noch heute geht die Redensart: Wer in Gottes Hand ist, kann vom Kirchturm stürzen, es macht ihm nichts. Wer aber in des Teufels Gewalt ist, braucht nur von der Ofenplatte zu trohlen, und er ist mausetot.
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch