In ferner, grauer Zeit soll auf dem Hügel, wo heute die Kirche von St. Silvester steht, ein frommer Einsiedler gelebt haben. Die Felsenhöhle, welche ihm als Wohnung diente, wird noch jetzt gezeigt. Später wurde über ihr eine Kapelle erbaut, und der Ort erhielt den Namen Baselgin (= kleine Kirche). Diese Kapelle fiel aber der Zerstörung anheim. Um die Mitte des 12. Jahrhunderts baute sie ein Laienbruder aus dem Kloster Altenryf mit eigenen Händen wieder auf. Sie wurde dem heiligen Silvester geweiht.
Dann meldet die Sage:
Im Laufe der Jahrhunderte vermehrte sich die Bevölkerung, und das Heiligtum wurde zu klein. Da versammelte sich die Gemeinde und beschloss ein grösseres zu errichten. Doch wo? Über diese Frage konnte man sich lange nicht einigen. Einige Bürger wollten wieder oben auf dem Hügel bauen. Andere sagten, die neue Kirche gehöre auf die Ebene von „Zur Schür“. Dort werde mit der Zeit auch ein Dorf entstehen. Diese Ansicht gewann immer mehr Anhänger. „Eine Kirche und ein Dorf“, so hiess jetzt die Losung. Auf der Ebene von „Zur Schür“ stand neben der Strasse ein mächtiges Steinkreuz. Da sollte nun die neue Kirche gebaut werden. So hatte es endlich die Mehrheit der Bürger beschlossen. Aber es kam anders.
Der Frühling zog ins Land, und St. Silvester begann mit dem Bau des neuen Gotteshauses. Die ganze Bevölkerung war voll Begeisterung. Jeder wollte Hand anlegen, jeder wollte mithelfen am Werke. Sand, Steine Holz und Kalk wurden auf den Platz geführt. Das war ein Kommen und Gehen ein freudiges Schaffen wie um einen Ameisenhaufen. Nun kam der Baumeister mit dem Plan in der Hand und begann beim Steinkreuz den Platz abzumessen und abzustecken. Andern Tages sollte mit dem Aushub der Fundamente begonnen werden. Als aber die Arbeiter auf dem Platz erschienen, da sahen sie staunend einander an; das Steinkreuz war über Nacht verschwunden, und nicht einmal die Stelle, wo es gestanden, war erkennbar. Jetzt fing man an zu fragen und zu suchen. Endlich fand man es oben auf dem Hügel, vor der alten Kapelle. Niemand wusste zu erklären, wie das gekommen war. Menschenhände konnten dies unmöglich getan haben.
Aber der Bauplatz war nun einmal abgesteckt und das Material zur Stelle. Also begann man die Fundamente zu graben. Am nächsten Morgen gab es wieder eine Aufregung; es fehlten alle Werkzeuge. Über Nacht waren sie weggenommen worden. Man fand sie endlich auf dem Hügel droben neben dem Steinkreuz. Noch wurde ein Tag lang gegraben, aber der Eifer liess merklich nach. Eine Ahnung beschwerte die Herzen, es könnte alle Arbeit umsonst sein.
Am dritten Morgen gab es eine neue Überraschung. Alles Material, - Holz, Sand und Steine - war verschwunden. Man fand es schön geschichtet und geordnet beim Steinkreuz oben auf dem Hügel. Nun erkannten die Bürger, dass eine höhere Macht in ihre Pläne gegriffen und ihnen deutlich und klar den Platz gezeigt habe, wo die Kirche zu bauen sei. Oben auf dem Berge legte man jetzt die alte Kapelle nieder und begann das neue Heiligtum zu bauen. Rasch und unbehindert wuchs das Werk empor. Noch ehe der Winter ins Land zog, war es glücklich vollendet. - Dieses Gotteshaus stand bis zum Jahre 1898, wo es abermals zu klein wurde und dem heutigen Platz machen musste.
Der Wunsch des Volkes, die Kirche inmitten des Dorfes zu haben, ging also nicht in Erfüllung. Was machte das den Leuten? Sie hatten dafür die hohe Freude, ihr Heiligtum auf den herrlichsten Platz der Heimat gestellt zu haben. Es gibt in unserem Lande Kirchen, die grösser, schöner und reicher sind als jene auf dem Berge. Doch keine ist so schön gelegen wie sie. Ein Gleichnis des Himmelreichs möchte man sie nennen. Schmal und steil und mühsam ist der Weg, der zu ihr empor steigt. Eng ist die Pforte, durch die du eintrittst. Aber drinnen umfängt dich himmlische Ruhe. Hier bist du fernab vom Lärmen und Hasten und Treiben der Welt. Und gehst du hinaus und blickest gegen Morgen, dann stehst du wie geblendet vor der Pracht der Berge. Da ragen ganz nahe vor dir die Höhe von Neuhaus und die Muschenegg empor, weiter zurück erheben sich der Schwyberg und die Pfeife, und zu hinterst wölben sich die Gipfel der Stockhornkette wie ein Riesenaltar zum Himmel hinauf. Richtest du den Blick gegen Abend und Mitternacht, dann siehst du das ganze Mittelland mit Dörfern und Städten mit dunklen Wäldern, grünen Matten und goldenen Kornfeldern zu deinen Füssen liegen. - Rings um die Kirche breitet sich wie ein Blumengarten der Friedhof aus. Mächtige, uralte Linden und Ulmen halten treu die Wacht. In ihren Wipfeln orgelt der Bergwind und singen die Vögel das ewige Lied vom Auferstehn.
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch