Im Walde oberhalb der Flachsnera hauste ein Ungeheuer. Wer zu gewissen Zeiten dort vorbeiging, der hörte es den steilen Waldweg herauf schnauben und keuchen. Dabei jammerte es: „0 weh, o weh, o weh.“ Junge Burschen, die einst in später Nachtstunde durch den Wald gingen, hörten das Ungeheuer rufen: „Machet Platz! - Flieht!“ Darauf rollten von der Höhe des Wildwaldes mehr als ein Dutzend Baumstämme herunter und legten sich kreuz und quer über den Weg. Am andern Morgen war von denselben nichts mehr zu sehen.
Ein Fuhrmann musste einst nachts durch den Flachsnerawald fahren. Da hörte er das Ungeheuer keuchend herankommen, und ganz in seiner Nähe rief es: „O weh, o weh, o weh!“ In diesem Augenblick flog eine ungeheuere Schar schwarzer Vögel aus dem Walde und liess sich mit grossem Gekreisch auf Wagen und Pferde nieder. Der Fuhrmann knallte mit der Peitsche, aber die Vögel waren nicht zu verscheuchen. Erst am Ende des Waldes flogen sie auf und verschwanden.
Wer war dieses Ungeheuer?
Der Geist eines verstorbenen Menschen war es, der wegen einer begangenen Ungerechtigkeit nicht Ruhe finden konnte, und so seine Schuld büssen musste.
Wie kam das?
Zwei Brüder teilten das väterliche Erbe. Der Ältere übervorteilte den Jüngeren und zog den Flachsnerawald ungerechterweise an sich. Wohl plagte ihn darum das böse Gewissen. Doch Ehrgeiz und Habsucht liessen nicht zu, dass er noch rechtzeitig sein Unrecht gutmachte. Er starb eines plötzlichen Todes. Kaum war er begraben, da begann im Flachsnerwalde jenes Ungeheuer zu spuken und Schrecken und Grauen zu verbreiten. Der Jüngere ahnte, es könnte der Geist seines Bruders sein und fragte den Herrn Pfarrer, was da zu tun sei. Dieser riet ihm, er solle sich um Mitternacht in den Wald begeben und das Ungeheuer, wenn es sich ihm nahe, also anreden: „Im Namen der heiligsten Dreifaltigkeit, wenn du mein Bruder bist, so sage, was fehlt dir?“ Der Bruder war entschlossen, das zu tun. In der folgenden Nacht begab er sich in den Wald, setzte sich auf einen Baumstamm und wartete. Als es Mitternacht schlug, hörte er tief im Walde drunten das Ungeheuer jammern: „0 weh, o weh, o weh!“ Jetzt kam es keuchend den Hang herauf, immer näher. Schnell machte er die Rede bereit, um es anzusprechen. Aber in diesem Augenblicke schrie es ihm schon ins Ohr hinein: „0 weh, o weh, o weh!“ und er verspürte den eiskalten Atem des Ungeheuers. Entsetzen packte ihn, und er floh, so schnell als ihn die Füsse tragen mochten, über Stock und Stein den Wald hinunter und dann gegen den Graben hinüber nach seiner Wohnung. Das Gespenst jagte hinter ihm her und rief ohne Unterlass: „0 weh, o weh, o weh!“ Da, endlich langte er atemlos zu Hause an. Mit Händen und Füssen schlug er an die verriegelte Türe, dass sie aus Schloss und Angeln sprang. In der Ferne hörte er es noch immer jammern: „0 weh - o weh - o weh!“
Ein heftiges Fieber befiel ihn. Viele Wochen musste er das Bett hüten. Als er dann endlich wieder aufstehen durfte, da war sein erster Gang nach dem Flachsnerawalde, wo er am Wege, nahe an der Stelle, wo er das Ungeheuer hatte anreden wollen, ein Bild der schmerzhaften Mutter Gottes an einem Baume befestigte. Wer aber dort vorbeiging, zog den Hut und sprach ein kurzes, kräftiges Gebet für die arme Seele. Das wirkte. Immer seltener wurden die Klagerufe des Ungeheuers gehört, und endlich verstummten sie ganz. Die arme Seele hatte Erlösung und Ruhe gefunden.
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch