Rache

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Es war zur Sommerszeit. Ein Bauer aus dem Oberland wanderte den Bergen zu. Er wollte auf der Muschenegg ein Rind holen, um es auf den Markt zu bringen. Wie er so ahnungslos durch den Burgerwald ging, gewahrte er plötzlich etwas ganz Seltsames. Hart am Wege stand eine mächtige Tanne, und darunter schlief im weichen Moos ein Zwerglein. Erst blieb er wie gebannt stehen, doch allmählich trieb ihn die Neugierde näher zu dem sonderbaren Wesen. Lange, und von allen Seiten betrachtete er das kleine Männlein. Nein, dass es so etwas geben konnte. Es hatte kaum die Grösse eines zehnjährigen Knaben. Aber Bart und Haare waren grau wie das Moos an den Tannen und die Stirne gefurcht wie die eines Grossvaters. Auf einmal kam dem Bauer die Lust an, das Männlein so recht zu „erchlüpfen“. Er schwang seinen knorrigen Stock und schlug scharf neben dem Kopfe des Schläfers einen kräftigen Hieb auf den Boden, dass Moos und Reisig aufspritzten. Das Zwerglein fuhr entsetzt auf, wich einige Schritte zurück, blickte seinen Plager mit zornfunkelnden Augen an und rief: 

„Wart  du Grobian,

du denkst noch dran.“

Und husch, husch, verschwand es im Dunkel des Waldes.

Am Abend desselben Tages schritt der Bauer wieder durch den Burgerwald abwärts. An der Halfter führte er sein Rind. Es war müde und wollte nicht mehr laufen. Nur langsam kam es vorwärts. Zudem nahte ein Gewitter. Ganz dunkel wurde es im Walde, und der Donner rollte schon über die Berge. Als der Mann endlich auf die Weide hinaus kam, fielen die ersten Tropfen. Vor ihm lag eine Berghütte: Der Sonnenwilschwand. Dort suchte er Schutz. Der Stafel war leer. Der Bauer band das Rind in den Stall. Ein furchtbares Unwetter ging jetzt über die Gegend. Es blitzte und donnerte ohne Unterlass, und den Regen goss es wie ans Melchtern hernieder. Die Wildbäche schwollen zu Strömen an und stürzten donnernd zu Tal. Als die Schauer endlich nachliessen, da war es dunkle Nacht. Der Mann beschloss darum, in der Hütte zu nächtigen und in der Frühe des Morgens den Heimweg anzutreten. Auf der Bühne machte er sich im duftigen Bergheu ein Lager zurecht, und bald schlief er fest wie ein „Rone“. Mitten in der Nacht aber wachte er auf. Lachen und Schreien tönte durch das Haus, und von der Küche drang ein Lichtschein herauf. Rasch machte er sich aus dem Heu, und auf allen Vieren kroch er vorsichtig tastend bis an die Stiege, die zur Küche hinabging. Was er hier erblickte, stellte ihm die Haare auf. In der Küche wimmelte es von Zwergen. An einem Balken der Decke hing sein Rind an den Hinterbeinen, und ein halbes Dutzend der kleinen Teufel zogen ihm gerade die Haut ab. Mit einem Donnerwetter wollte er die Stiege hinunter fahren und die Schinder zur Türe hinaus werfen. Aber die Zwerge hatten ihn schon bemerkt. Sie streckten ihm die langen Metzgermesser drohend entgegen und riefen: „Komm nur!“ Was war da zu machen? Hilflos musste er zuschauen, wie die Bösewichte ihr Werk weiterführten. Mitten in der Küche aber stand der Zwerg, den er heute Morgen im Walde erschreckt hatte, und gab seine Befehle: „Herunter mit der Haut - Kopf ab - Eingeweide heraus - Vorderstotzen ausschneiden - Hinterstotzen. In kürzester Zeit war das Rind kunstgerecht in Stücke zerteilt. Gleichzeitig machten sie in der Herdgrube Feuer, hängten einen Kessel darüber und brieten eiligst das saftige Rückenstück. Dann setzten sich die Zwerge an den Tisch und hielten fröhlichen Schmaus. Gegen Ende des Mahles nahm einer eine Schüssel voll Bratenstücke, brachte sie dem Bauer, der noch immer oben auf der Stiege kauerte, und sprach: „Tä da - muescht o eppis ha.“ Aber er mochte vor Ärger nicht essen. Da zückten in der Küche drunten die Metzger wieder drohend ihre blutigen Messer. Jetzt nahm er widerwillig ein kleines, viereckiges Stücklein aus der Schüssel und würgte es hinunter. Im gleichen Augenblicke liessen die Zwerge ein ohrenbetäubendes, teuflisches Gelächter erschallen. Dann verschwand der ganze Zauber. Dunkle Nacht herrschte in der Hütte, und der Bauer kroch ins Heu zurück.

Es war schon heller Tag, als er wieder erwachte. Eilig stieg er in die Küche hinunter. Aber wie erstaunte er, als hier weder Haut, noch Fleisch, noch Blutspuren von der nächtlichen Schlächterei zu finden waren. Jetzt ging er zum Stalle und stiess die Türe auf. Hah - welch neue Überraschung! Das Rindli war noch da und lebte und muhte ihm freudig entgegen. Hatte er am Ende alles nur geträumt? Er führte das Tier hinaus und visitierte es von unten bis oben. Da entdeckte er auf dem Rücken desselben ein kleines, viereckiges Loch, genau so gross wie das Bratenstücklein, das er in der Nacht gegessen hatte. Jetzt ging ihm ein Licht auf. Die Zwerge hatten ihm als Vergeltung auch einen Chlupf bereitet und zwar einen ganz gehörigen.

 

Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch

 

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