Ein Knabe eilte jodelnd den Burgerwald herunter. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen und der frohe Sang erstarb auf seinen Lippen. Auf einem Wurzelstock hart am Wege sass ein Zwerglein. Das lächelte den Knaben freundlich an und liess sich mit ihm in ein Gespräch ein.
„Büblein, wo kommst du her?“
„Ich habe dem Vater das Mittagessen gebrungen.“
„Wo bist du daheim?“
„Im Schwand drunten, und du?“
„Da im Berg drinnen. Möchtest du nicht einmal ein bitzeli zu uns kommen?“
„Wohl, das möchte ich gern.“
„Eben, so komm!“
Das Zwerglein nahm den Buben bei der Hand und führte ihn durch eine Wirrnis von Gebüsch und Steinblöcken zu einer Felsenspalte. Dort krochen sie hinein und gelangten in einen riesigen, hellerleuchteten Saal. Inmitten desselben sass auf einem prachtvollen Throne der Zwergkönig. Er trug eine funkelnde Krone auf dem Haupt und einen goldenen Stab in der Hand. Um ihn herum wimmelte es von kleinen Leutchen, Männlein und Weiblein in hübschen, bunten Gewändern. Sie machten fröhliche Spiele und drehten sich im Reigen. Dazu ertönte eine bezaubernde Musik eine Musik, die Erde und Himmel, Zeit und Wirklichkeit vergessen liess.
Mit offenem Munde und fiebrig glänzenden Augen stand der Knabe da, geblendet von dem Schauspiele, berauscht von der Musik und schaute und lauschte und staunte. Da traten die Zwerglein zu ihm heran und baten: „Komm, spiele mit uns.“ Noch bevor er antworten konnte, fühlte er sich an beiden Händen gefasst, in ihren Ring gezogen, und schon jagte er im lustigen Reigen um den Thron des Königs. Schneller und immer schneller ging`s herum. Doch, - wie sonderbar - das war kein Laufen, kein Tanzen. Die Füsse berührten den Boden nicht mehr. Das war ein weiches Schweben - ein Fliegen. Er hatte dieses wonnige Gefühl im Traume schon oft empfunden. Keine Müdigkeit beschwerte die Glieder, keine Hitze, keine Kälte, kein Hunger, kein Durst hemmte das wundervolle Spiel. Und diese Musik, diese Musik; man schwebte traumselig mit ihr empor.
So schwand die Zeit. Der Knabe merkte es nicht. Er vergass seine Eltern, seine Ziegen, seine Arbeit, vergass alles und lebte nur der Wonne des Augenblicks. War ein Spiel zu Ende, so begann wieder ein neues. Es riss ihn mit. Von den Klängen der Musik getragen, tanzte, schwebte, tollte, sang und jodelte er ohne Unterlass. Er hätte wohl noch lange mitgetan, aber auf einmal verstummte die Musik. Der König sprach: „So Büblein, jetzt musst du nach Hause. Komm näher, ich will dir noch ein Andenken mitgeben. Hier hast du ein Käppchen. Es hat eine wunderbare Kraft. Wenn du’s auf den Kopf setzest, macht es dich den Menschen unsichtbar. Aber, pass auf, treibe keinen Missbrauch damit. Solltest du mein Geschenk einmal zu einer schlechten Tat gebrauchen, dann würde mein Volk sich furchtbar an dir rächen.“
Der Knabe nahm die Tarnkappe, die nicht grösser war als ein Chujerchäppi, dankend in Empfang und verabschiedete sich vom König und dessen Untertanen. Das Männlein, das ihn hereingeführt, begleitete ihn nach Hause. Die Sonne ging eben unter. Der Knabe meinte: „Jetzt habe ich den ganzen Nachmittag bei euch verbracht. Hoffentlich ist der Vater noch nicht zu Hause, sonst bekomme ich Schläge.“ Es nachtete schon, als sie in den Schwand kamen. Das Zwerglein klopfte an die Türe. Vater und Mutter eilten heraus, und als sie ihr Kind sahen, riefen sie beide: „Eh, mein Gott! Bub, wo kommst du her?“ Das Männlein antwortete: „Er war bei uns hat mit uns gespielt, straft ihn nicht“. Dann wandte es sich um und beinelte rasch davon, dem Bergwald zu.
Drinnen in der Stube hielt der Vater mit seinem Sohne strenges Gericht. „Drei Tage lang bist du fortgewesen. Drei Tage lang haben wir dich im Walde gesucht und uns fast die Beine abgelaufen. Bald hätte man dir die Totenglocke geläutet. Du aber, du donners Schlingel, du hast dich unterdessen bei den Heiden herumgetrieben, mit ihnen gespielt, drei Tage lang. Wart, ich will dir dieses Spielen gründlich verleiden.“ Mit diesen Worten ging er hin, die Haselrute hinter dem Puffet zu holen. Dem Jungen war zu Mute, als stürze er von der Höhe des Himmels in die Tiefe der Hölle hinunter. „Drei Tage fortgewesen, drei Tage dich gesucht,“ so summte es in seinen Ohren. Er konnte es nicht glauben und nicht begreifen, auch nicht als der Vater ihn aufs Knie nahm und den gefürchteten Haselstecken ohne Erbarmen auf den gespannten Hosenboden sausen liess. Doch plötzlich kam ihm das Käppchen in den Sinn. Er hielt es noch immer in der Hand. Flugs drückte er`s auf den Kopf und das Mirakel geschah. Des Vaters zornige Hiebe schlugen ins Leere - der Schlingel war verschwunden. So nahm das Strafgericht ein ganz unerwartetes jähes Ende.
Der Knabe suchte später noch manches Mal im Walde droben den Eingang zum unterirdischen Saale, fand ihn aber nicht mehr. Die Tarnkappe trug er lebenlang bei sich. Sie war ihm in seiner Kindheit eine unerschöpfliche Quelle der Freude. Bei keinem Spiele durfte sie fehlen und immer neue Überraschungen wusste er mit ihr zu erfinden. Sie war seine Schützerin in den Mannesjahren. Drohte ihm eine Gefahr, geriet er in Zank und Streit, verwickelte er sich in eine missliche Lage, dann setzte er einfach seine Kappe auf und verschwand. Sie war ihm aber auch eine ständige Mahnerin. Nie hätte er gewagt, sie zu einer bösen Tat zu verwenden, obwohl die Versuchung dazu oft nahe lag. Immer tönten des Zwergkönigs Worte in seinen Ohren: „Pass auf! Treibe keinen Missbrauch damit!“
Quelle: German Kolly, Sagen aus dem Senseland, Freiburg 1965. Mit freundlicher Genehmigung der Verlag Herder GmbH. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung, www.Maerchen.ch