Als Herr Burkard zu Strättlingen sass, herrschte in deutschen Landen eine grosse Pestilenz. Es währte der sogenannte "Tod" mehr denn zwei Jahre und starben so viele Leute, dass oft nicht genug übrig blieben, die Verstorbenen zu begraben. Da ward die ganze Herrschaft Strättlingen bei drei Meilen Wegs ringsum so öde und wild, dass Äcker und Felder unbebaut blieben. Auch die Güter der Kirche lagen brach, als ob sie Wildnis wären. Da erkannten die Leute, dass eine Strafe Gottes ihrer Sünden wegen über die Menschen gekommen sei und kamen überein, mit grossen Gaben nach der Kirche des Paradieses zu wallfahren, dort die Engelweihe wie von Alters her zu begehen und dadurch den heiligen Sankt Michael zu versöhnen. Und so geschah es denn, dass eine grosse Prozession aus den Kirchspielen Thun, Hilterfingen, Sigriswil im Kostenzer Bistum, sowie von Leissigen, Frutigen, Eschi, vom Goldenen Hof, von Wimmis, Amsoldingen,
Thierachern, Uttigen und Scherzlingen im Losner (Lausanner) Bistum unter Anführung ihrer Kirchherren und Leutepriester zur Kirche des Paradieses in Einigen wallte. Sie brachten mit sich ihre Kreuze, Heiltum, Kerzen, Schellen und ander Gezierd, die üblich,
wenn man mit den Kreuzen auszieht. So vollbrachten sie denselbigen Kreuzgang mit grosser Andacht, Gebet und Almosen und gelobten diesen Kreuzgang hinfort ewiglich zu halten zu einer Bekenntnis, dass der heilige Sankt Michael ihr Patron und Schirmer sei, weil auch sie vormals zur Kirche des Paradieses gehört hätten.
Als aber Herr Burkard hernach nach Lamparten zum Kaiser ritt, fand er den Papst bei demselbigen und klagte ihm die bittere Not und Verarmung seiner Kirche. Da befahl ihm der heilige Vater, er möchte von jeglichem Kirchspiel Frauen und Männer auserlesen, die im Lande umhergehen sollten, um künftighin alljährlich eine Sammlung zu tun. Dieselbige war darum das heilig Sankt Michels Almosen genannt. Und der Papst liess alle diejenigen bannen und verfluchen, welche die Boten des Paradieses am Einzug dieses Almosens behindern würden, heimlich oder öffentlich.
Nach derselbigen Zeit aber waren durch die Verehrung Sankt Michaels die Pestilenz und die anderen Plagen gemildert und verschwanden bald aus dem Lande.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.