Als König Rudolf von Burgund einst auf seinem Schlosse zu Strättlingen am Thunersee der Ruhe pflegte, hatte er einen Traum und ward verzückt. Er sah vor sich eine grosse Stadt mit hohen Mauern und zwölf Pforten. Auf jeder dieser Pforten stand ein Engel der des Tores hüten sollte. Darüber erwachte der König und verwunderte sich höchlich, was der seltsame Traum zu bedeuten hätte. Der liess daher im Lande herumforschen. Lange aber konnte ihm niemand sein Gesicht deuten, bis er einst einen Priester fand, der ihm eröffnete, Gott habe ihm ein Zeichen gegeben, wie er seinen Dienst mehren und zwölf Kirchen bauen lassen solle, die da Töchter des Paradieses der Kirche sein würden. Da fing der König an zu tun wie ihm geraten war. Er baute aber die zwölf Kirchen, die hiernach stehen, nämlich: Frutingen, Leuxingen, Eschi, Wimnis, Uttingen, Thierachern, Scherzlingen, Thun, Hilterfingen, Sigriswil, Amsoldingen. Es sollte aber die letztere ein Brüderstift sein mit einer bestimmten Anzahl Domherren. Doch auch zu dem Goldenen Hof liess der König ein solches Stift errichten an welchem Ende bereits eine Burg mit hohem Turme stand welche man heute Spiez heisst. Bei dem hohen Turme wurde durch ihn eine Stadt gebaut und gefreit nach den Freiheiten anderer römischen Städte.
Der König aber war ein unbeständiger Mann, der sich vom Satan verführen liess, der Kirche im Paradies nicht mehr zu gedenken, die doch seine Ahnen gebaut hatten. Er sann, wie er die zwölf Tochterkirchen erhöhen und die Mutterkirche unterdrücken könne, vergass auch der Zeichen und Wunder, welche in dieser Kirche geschehen waren. Aber Sankt Michael liess seinem Hause im Paradies solches nicht widerfahren. Es kam nämlich ein grosses Siechtum über den König und wie er krank lag, träumte ihm, der Teufel klage ihn vor Gott an und fordere seine Seele. Als das Gericht über ihn gesetzt war, traten die Engel Gabriel und Raphael für den König ein um seine Seele zu verteidigen. Der Teufel aber trat drei Mal mit stets neuer Anklage auf. Da gab Gott Urteil und sprach, man solle eine Waage bringen um das Gute gegen das Böse zu wägen. In seiner Seelenangst bat jetzt der König Sankt Michael, ihm in dieser Seelennot beizustehen, verhiess ihm auch alles Gute für die Kirche im Paradiese. Da däuchte ihn, es trete Sankt Michael mit der Waage zu ihm hin und legte auf die Schale, da wenig Gutes darinnen war, seine Hand auf. Der Teufel aber hängte sich an das andere Ende, um es nieder zu ziehen. Da dräute ihm der Heilige mit dem Schwert und jagte ihn von dannen, also dass König Rudolf erlöst war.
Als er aber genas, ging er hin und tat, was er gelobt hatte.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.