Es waren einst Friesen ins Land gekommen, die hatten in Frutigen ihre Wohnstätten aufgeschlagen. Einst weidete ein Friesenknabe in dieser Gegend seine Herde. Bei Sonnenuntergang, als er seine Schutzbefohlenen zählte, bemerkte er, dass nicht die ganze Zahl beisammen war. Es fehlten gerade die schönsten Ziegen. Flugs sperrt er, was da ist, in die Bergstatt und macht sich auf die Suche nach den Verlorenen. Durch Wald und Schluchten eilt er dahin, immer rufend, immer lockend, bis ihn zuletzt die Nacht überrascht. Von grosser Müdigkeit übermannt, sucht der Bub unter einem grossen Tannenbaum für die Nacht eine Lagerstätte. Da dringt im Schlafe ein seltsames Geläute an sein Ohr und wie er sich umschaut, sieht er in schöner, freier Gegend, inmitten grüner Triften ein Kirchlein stehen. Wie er aufwacht, scheint schon die Sonne durch die Zweige. Rasch nimmt er Stab und Hirtentasche und eilt weiter, seinen Ziegen nach. Da, endlich öffnet sich vor ihm ein weites schönes Tal, umkränzt und geschützt von hohen Bergen. Es ist das Tal, das er im Traume geschaut. Aber kein Kirchlein ist weit und breit zu sehen. Keines Menschen Spur findet sich darinnen. Doch an einer frischen Quelle inmitten des Wiesengrundes sieht er seine verlorenen Ziegen an der Tränke. Auch er trinkt nun von dem köstlichen Labsal und spricht zur Quelle gewandt: "Geissbrunnen sollst du heissen!" Voller Jubel über seine Entdeckung eilt er talwärts, um den Seinen die frohe Kunde zu bringen. Da entschliessen sich fünfzig Hausväter, mit Weib und Kind hinaufzuziehen ins höhere, reiche Alpental. Geissbrunnen ward darum die Stelle genannt, wo der Knabe seine verlorenen Geissen gefunden, und ist der Name bis auf den heutigen Tag geblieben. Weil aber der Talgrund voller äsiger Weide war mit herrlichen, kräftigen Futtergräsern, nannten die Neuleute den Ort, wo sie jetzt ihre Hütten aufrichteten: Adelboden. Der Traum des Geissbuben aber hinsichtlich des Kirchleins ging erst viele hundert Jahre später in Erfüllung.
Quelle: Hermann Hartmann, Sagen aus dem Berner Oberland. Nach schriftlichen und mündlichen Quellen, Interlaken 1910.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.