Der nächtliche Leichenzug

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Im Tiefental, einer ansehnlichen grasreichen Längsmulde, zwei Stunden im Aenderberg, stand vor Zeiten ein grosses Heidenhaus, das in der Regel nur von einer Familie bewohnt war, an dem aber sämtliche Besitzer von Tiefentalgütern, die im Herbst mit dem Vieh hieher zogen, für ihre Person Winterwohnrecht hatten. Diese Mitbewohner erhielten, als das Haus später abgebrochen wurde, als Entschädigung von dem alten Bauholz zugeteilt, das sie teilweise zum Bau eigener Gehälter verwendeten.

Einst sassen die Tiefentaler vor dem Hause zum Feierabend zusammen. Das Tagwerk war getan und ein müssiger Hock wohlverdient. In der Tiefe gurgelte das Bächlein, schwarz und schweigend standen die Tannen vorn auf der Fluh; dunkel stieg hinter dem Hause der Schlattiwald auf, über dem die runden Buckel des Axalphorns und der Oltschiburg und zwischen diesen die felsige Pyramide des Schwarzenberges im Sternenlichte leise schimmerten.

Auf einmal erhob sich in dem nächst dem Hause stehenden Zuhüttli ein sonderbarer Lärm. Trotz des windstillen Abends war es, als pfiffe ein scharfer Wind zu einem Loch hinein und pfauche in den vier Wänden wie ein gefangenes gereiztes Tier. Bald wieder schien das Pfauchen aus den nahen Ahornen und Eschen zu kommen, und zwischenhinein tönte es wie das Klagen und Stöhnen von menschlichen Stimmen aus weiter Ferne.

Die Stimmen kamen immer näher, sie verdichteten sich nach und nach zu einem Gemurmel, wie von vielen Menschen. Und dann - die Tiefentaler sperrten Mund und Augen auf und hielten sich mäuschenstill - nahte sich von der Meyershofstatt her dem Weglein nach ein gar sonderbarer Zug, Leute in langen, weissen Kleidern, ihnen vorab Träger mit einem Sarg. Langsam kam der Zug auf das Haus zu, schwenkte kurz vor diesem gegen das Bächlein ab, folgte dem Wasser bis dahin, wo es über Felsen in die Tiefe rinnt, und verschwand daselbst im Weglein unter dem Fluhband.

Die Leute vor dem Hause fanden an diesem Abend den Faden zu gemütlichem Schwatz nicht mehr. Ein kalter Schauer um den andern war ihnen den Rücken hinabgelaufen, da schlüpften sie am liebsten gleich ins Bett und zogen die Decke über den Kopf hinaus. Mussten sie doch froh sein, dass die Geschichte so glimpflich abgelaufen war.

Quelle: Albert Streich, Brienzer Sagen, Interlaken 1938.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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