In Austagen, die auf einen schneereichen Winter folgen, steckt das Hochtal der Planalp voller Lawinengefahr. Denn die Grathänge am Rothorn sind steil, die Last des frühlingsfeuchten Schnees drückt sie glatt und glitschig - ein gäher Riss in die weisse Fläche - und holter-di-polter brechen Schnee und Erde los und rumpeln in langem Zuge unheimlich rasch von den Gräten hinunter in den Planalpbach.
Zu solchen Zeiten wagt sich niemand gerne in das Tal. Erst wenn Sonne und Föhn die Halden ordentlich ausgeapert haben, steigt der eine oder andere Älpler hinauf, zu gwundern, wie die Lawinen gehaust. Und gar zu oft sieht er dann von den Alphütten nichts mehr als Stücke von Schindeldächern, gebrochene Sparren und andere armselige Reste, Hunderte von Schritten von ihrem ursprünglichen Standort weg, aus schmutzigen Schneehaufen ragen.
Vor alten Zeiten war der unterste und zahmste Teil der Planalp bewohnt. Ein sonniges Dörfchen, die Husstatt, lehnte am Hang. Die Bewohner gingen wohl dem Viehgewerb nach, jagten wilde Tiere und bebauten krapfengrosse Äckerlein.
Da brach einmal hoch am Berg eine gewaltige Grundlawine los. Die schoss, vermischt mit Erde, umgeworfenen Waldbäumen und losgerissenen Steinen, dem Dorf in den Rücken, zerdrückte die Häuser und fegte ihre Reste in den Bach hinunter und weiter über die tausend Fuss hohe Mühlebachfluh in den Brienzersee.
So gründlich besorgten die Naturgewalten das Zerstörungswerk, dass kein Haus verschont, kein Holz und kein Stein auf dem andern blieb, und alles Lebendige, Menschen und Vieh, ein unerwartetes schreckliches Sterben erlitt.
In den trüben Fluten, die der Planalpbach noch wochenlang in den See ergoss, flössten etliche Bewohner von Brienz nach Holz. Am zweiten Tage nach dem Unglück hakte einer der Männer seinen Flosshaken in einen ausgehöhlten kurzen Baumstrunk und zog die Last an Land. Das vermeintliche Stück Holz war aber kein rauher Stamm, sondern eine einfache Trogliwiege, und darin lag ein schlafendes Knäblein, das die Augen munter aufschlug als man die Wiege ganz auf das Ufer zog. Es war der einzig übrig gebliebene Bewohner der Husstatt auf der Planalp. Ins Dorf verbracht, erwies es sich, dass er die sonderbare Fahrt vom Berge herunter ohne Schaden überstanden hatte. Er wuchs gesund mit geraden Gliedern heran. Da seinen rechten Namen niemand wusste, nannten ihn die Leute „dän ab der Planalp“ und später einfach Abplanalp, als welcher er der Stammvater des heute noch bekannten Geschlechtes geworden ist.
Quelle: Albert Streich, Brienzer Sagen, Interlaken 1938.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch