Wenn früher die ältesten Bergführer die ersten Besteigungen unserer Berge erzählten, haben wir oft gefragt:
«Warum sind nicht schon eure Väter auf die Berge gegangen?» «Sie meinten, der Berggeist lasse niemand hinaufkommen», war die Antwort.
Jeder Berg hat nämlich seinen Geist, kleiner oder grösser, wie der Berg selbst es ist. Verhüllt der Berg sein Haupt mit Wolken, dann zieht der Berggeist seine Kappe an. Spannt er Federwolken aus, dann kämmt der Berggeist sein Haar. Der Berggeist ist auch ein Wetterprophet, vorab der Berggeist vom Bietschhorn, der grösste im ganzen Tal.
Hed d's Biätschorn ä Huät, Denn ist d’s Wätter guät.
Hed d's Bidtschhorn ä Fädrun, Denn fad's an z’rägnun.
Hat das Bietschhorn einen Hut, Dann ist das Wetter gut.
Hat das Bietschhorn eine Feder, Dann fängt es an zu regnen.
So lautet die Regel.
Der Berggeist vom Bietschhorn ist ein gewaltiger Riese. Mit einem Stemmeisen bricht er von den Felsen, mit seinem Fusse erschüttert er die Gletscher, dass sie abbröckeln. Zwei schreckliche Tiere sind in seinem Dienste, zwei schwarze Böcke mit Hörnern, die hinter ihnen den Boden aufritzen und Steine fortrollen. Gewöhnlich sind diese Tiere im Gallengufer und trinken aus dem Gallenbrunnen, der dann aufhört zu fliessen. Bisweilen kommen die Böcke auch ins Tal, am liebsten in heissen Sommern, wenn die Gletscher wie Wachs abschmelzen, oder nach schrecklichen Gewittern, die in den Bergen doppelt wüten. Unter dem Gletscher fängt es an, unheimlich zu tosen, die Moränen werden aufgewühlt, eine braune Masse von Schlamm und Steinen, die «Horlauwina» wälzt sich das Birchinn herunter.
Einmal waren Heuer an den Brunnmatten, als die Horlauwina gekommen ist. Sie haben deutlich gehört, wie der eine Bock zum andern sagte:
Zich brav, zich brav,
darauf der andere:
I mag nit bas, i mag nit bas,
Äs faständ d’heiligun Tämpertag.
Daraufhin hat der Rektor von Blatten beim neuen Kreuz, dem Birchbach gegenüber, eine hl. Messe gelesen. Während der hl. Messe streute ihm der Böse Sand und Steine ins Messbuch, um das hl. Opfer zu verhindern, und der Verbannung zu entgehen. Es ist ihm aber nicht gelungen.
Quelle: J. Siegen, Sagen aus dem Lötschental, Erweiterte Ausgabe der Gletschermärchen (1905), Lausanne 1979.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.