Am Fusse des Breithorns, im Innern Faflertal, heisst ein Ort das Wunderspiel. Es ist der Ort, wo die Wasser des schäumenden Bergbaches, die am Petersgrat entquellen, sich gesammelt und am tiefsten in die Kalkfluh eingefressen haben. Den felsigen Bachrand bekränzen Alpenrosen, und über diese hinaus hängt sich der Hirte von Fafleralp und schaut träumend in die Tiefe.
Frägst du ihn: «Was lockt dich auf den Abgrund?» so raunt er dir leise wie ein Geheimnis: «Hörst du nicht das Wunderspiel?»
Neigst du dein Ohr über den Rand in schwindliger Höhe zwischen Himmel und Erde, so musst du sagen: «Wirklich, aus der Tiefe kommt ein wundersames Spiel, bald stärker, bald leiser; bald brausend, bald wogend; mit den Wellen des Baches und dem Wehen der Lüfte steigend und fallend, schwellend und sterbend in immer wechselnder Art.»
«Siehst du den Spielmann?»
«Nein, aber die Mutter meiner Grossmutter hat noch dessen Geige gesehen, und deren Mutter hat noch ihr Spiel gehört. Die Grossmutter hat uns oft vom Spielmann erzählt und uns gewarnt, sich hier beim Wunderspiel nicht zu tief hinauszubücken, denn ungehorsame Buben würden nicht aus der Tiefe zurückkommen, wie der Spielmann. Wollt ihr hören die Geschichte vom Wunderspiel?»
Auf der Blüemlisalp im Berner Oberlande sind einmal drei Sennen gewesen. Zwei von ihnen gingen im Mondschein oft nach Gugginen zum Abendsitz. Der Dritte ist nicht mitgegangen; seine Geige war die Geliebte, die ihm die Zeit vertrieb.
Einmal nun wollten die zwei andern Sennen den Spielmann auch mithaben, um zum Tanze aufzuspielen. Lange hat sich der Spielmann anhaben (bitten) lassen, endlich ist er mitgegangen.
Wie Gemsen liefen die drei Sennen über Felsgräte und Bergschluchten, über Gletscherspalten und Firnfelder. Hier, wo die Felsen beider Ufer einander am nächsten kommen, setzten sie über den Bach in gewagtem Sprunge.
In Gugginen wartet ihrer schon ein lustiger Abendsitz. Vom Fafler und vom Gletscherstafel sind Sennerinnen dazu geladen. Auf Zinntellern sind Küchlein turmhoch aufgeschichtet, und das oberste soll dem flottesten Tänzer gehören.
Mit Stolz führen die Berner den neuen Spielmann in die Gesellschaft ein. Eine Probe seiner Kunst soll er gleich geben.
Der Spielmann spielt ein Lied von reiner Kunst und reiner Liebe, von Treue und von Edelsinn, so rührend und so inniglich, dass den Tänzerinnen die Tränen auf die weissen Schürzen fallen. Ihr Herz wiederholt vorwurfsvoll: Treue, Treue.
«Dem Spielmann gebührt der Preis», so sagen alle. Die Meisterin der Hütte fügt hinzu: «Gott geleite alle nach Haus.»
Wütend wollen sich die eifersüchtigen Kameraden auf den Spielmann stürzen. Dieser ist in die Nacht geflohen.
Der Mond hat ihm den Weg gezeigt, aber auch seine Spur verraten. Im Wollwald waren ihm die Verfolger schon so nahe, dass sie auf seinen Schatten treten konnten. Hier am Bachrand haben sie ihn eingeholt, wie er gerade den Fuss ansetzte zum kühnen Sprunge. Ein Stoss in den Rücken, und ein letzter Schrei: «Jesus, Maria und Joseph» wiederhallt von den Felswänden und steigt empor bis zu den Bergen und den Sternen.
Die Mörder haben nicht Zeit, sich über ihr Opfer zu freuen. Jeder hält den andern für einen Feind und Nebenbuhler, dem das gleiche Los gebührt. Ohne ein Wort zu sprechen, fangen sie an zu ringen, bis sie umschlungen miteinander in die Tiefe stürzen mit einem höllischen Schrei, den die Fluten begraben.
Es muss schon so sein, denn es soll hier nicht geheuer zugehen in mondhellen Nächten. Eine Erscheinung bringe einem das Blut in allen Adern zum Erstarren. Zwei Männer laufen vom Walde her gegen den Bach, fangen an zu ringen und stürzen mit einem höllischen Schrei in den Abgrund. Man hat nicht Zeit, ein Vaterunser zu beten, so kommen sie wieder und beginnen von neuem den Kampf, welcher mit dem Sturze und dem Schrei in der Tiefe endigt. So geht es die ganze Nacht und erst, wenn der Mond hinter die Berge sinkt oder ob der Dämmerung verblasst, erstirbt auch der letzte, jämmerliche Schrei an den Felsen.
«Wie ist es dem Spielmann ergangen?»
«Den hat Gott nicht vergessen.» Wie dieser zu sich gekommen ist, war es ihm, als erwache er von einem schrecklichen Traume. Kein Traum! Das hört er an dem tosenden Bach und fühlt er an den wellenbespritzten Steinen. Er muss aber sehen, dass ihm der Weg nach oben gesperrt ist von glatt geschliffenen, teilweise überhängenden Felsen.
Nur Wasservögel kommen aus Verstecken hervor und fliegen der Sonne entgegen. An ihre Flügel kann er sich nicht hängen. Nicht einmal seine Stimme steigt zu menschlichen Ohren empor, die Flühe halten sie gefangen und die brausenden Wasser haben sie rasch eingeholt und begraben.
Wehmütig beginnt der Spielmann auf seiner treuen Geige sein Leid zu klagen. Höher als die Stimme steigt das Spiel, bis zur Trösterin der Betrübten, der Königin der Engel. Die schönsten Muttergotteslieder gehen über die Saiten, auch das alte Pilgerlied von Kühmatt:
Nicht umsonsten tut man sehen Hier zu nacht ein Fackelschein;
Gibt Maria zu verstehen,
Dass sie hier wollt gnädig sein,
Dass man solle mit Vertrauen Ihr zu Ehr ein Kapell bauen,
Sie verehren an dem Platz,
Wo jetzt dieser Gnadenschatz.
Manche in den grössten G`fahren Haben hier ein Glübd getan,
Augenblicklich Hilf erfahren;
Viele Bilder zeigens an.
Turm Davids, Tron der Ehren,
Mutter der Barmherzigkeit,
Unser Flehen woll erhören,
Durch dein grosse Mildigkeit.
Hier schweigt die Geige. Noch nie hat sie so hell getönt, noch nie so zart geklungen.
Das Gelübde hat der Himmel gehört und treu besiegelt. Als ob ein Engel ihm die Hand reiche und ihn führe, steht der Spielmann auf und setzt den Fuss an den Felsen. Dieser gibt nach wie warmes Wachs, Tritt um Tritt steigt er empor und steht bald auf dem Rasen an der lebenspendenden Sonne.
An diesem Morgen haben die Sennerinnen den Spielmann nochmals gesehen und gehört. Wie sie auf dem Alpweg in die Kühmattkappelle traten, war das grosse Eisengitter offen. Vor dem Altare kniete der Spielmann und sang sein letztes Lied. Wie dieses verklungen, legte er die Geige auf den Altar und schenkte sie der Gottesmutter. Der Spielmann ist nicht nach Blüemlisalp zurückgekehrt, und auch in Lötschen wurde er nicht mehr gesehen. Nur die Töne seines Spiels hier in der Tiefe des Baches sind geblieben; sie heissen heute noch «das Wunderspiel.»
Quelle: J. Siegen, Sagen aus dem Lötschental, Erweiterte Ausgabe der Gletschermärchen (1905), Lausanne 1979.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.