Als die heidnischen Gottheiten dem siegenden Christentum erlagen und auch die Bewohner des Waadtlandes der neuen Lehre geschworen, war der Groll der Besiegten gegen ihre ehemaligen Anhänger so groß, dass sie diesen durch die Elemente, über welche sie damals die Macht noch nicht gänzlich verloren hatten, an ihrem zeitlichen Gute, um sie für ihre Abtrünnigkeit zu strafen und ihren Glauben an den neuen Gott wieder wanken zu machen, so viel als möglich zu schaden suchten. Vor allen war es Wodan, der erste der heidnischen Götter, der solche Rache übte. Bald brauste er als entfesselter Sturm, bald auf der Wolke des Donners einher, die Felder und Saaten von Reich und Arm zerstörend.
So kam er auch einst im alten Glanze auf einer hochaufgebäumten Woge, gleich wie auf einem Streitrosse sitzend, die Rhone herab, in der einen Hand ein Schlachtschwert, in der anderen die Weltkugel haltend. Da rief er: „Rigou, hai ousson!“ (Strom, erhebe dich!) und die Rhone erhob sich auf seinen Befehl, überschwemmte das Ufer und riss, die ganze Gegend verheerend, einen Teil von St. Maurice ein; nur die Stelle, wo der Altar dem neuen Gotte errichtet war, blieb unversehrt. Da erst erkannte Wodan seine Ohnmacht gegenüber dem Christengotte.
Nie wieder seit jener Zeit hat er sich den Menschen gezeigt, nie wieder Versuche gewagt, von neuem sein Reich unter ihnen zu gründen. Nur des Nachts, zu gewissen Zeiten des Jahres, lässt er sich noch hören im Sausen des Sturmes, hoch oben auf den Gletschern, zwischen Felsen und Gestein, in düsterem Waldesgrund, mehr aber sich selbst zur Pein, denn zum Schaden der Menschen. Unerblickt von deren Augen zieht er dann im scheußlichen Zuge einher, Freya, seine Gattin, einst eine gütige Göttin, jetzt ein böses Zauberweib, zur Seite, und was auf ewig verdammt, folget ihm: Selbstmörder, Trunkenbolde, ungetauft gestorbene Kinder, gehengte und geköpfte Missetäter, üppiges Weibsgesindel, Hexen und Hexenmeister, blutdürstige Nixen und boshafte Gnomen, kurz die Schaar aller jener bösen Geister, deren Reich die Felsen und Gletscher der Alpen, und deren Zahl so groß ist, dass, wollten sie dasselbe teilen, einem Jeden kaum ein Pfund der mächtigen Eis- und Felsenmasse anheim fiele. So sank Wodan, der einst von den Menschen als heiliger Gott Verehrte.
C. Kohlrusch, Schweizerisches Sagenbuch. Nach mündlichen Überlieferungen, Chroniken und anderen gedruckten und handschriftlichen Quellen., Leipzig 1854.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.