Auf der Anarosa Alp im Schamser-Gebiet findet man einen See, welcher so klein ist, dass man ihn von allen Seiten mit einem Stein überwerfen kann, dabei aber eine unergründliche Tiefe und wohl einen Zufluss, aber keinen Abfluss hat.
Zieht ein bös Wetter heran, so schnellt sich inmitten dieses Sees ein gewaltiger großer Wirbel empor, welcher im zunehmenden Wachsen so stark brüllt, dass man es von einem Berge zum andern, wohl sechs Stunden weit, hören kann. Dabei hat dieser See noch die wunderbare Eigenschaft, die Menschen, welche sich an seinem Ufer schlafen gelegt haben, unwiderstehlich anzuziehen.
So ist einstmals eine Frau, welche sich ziemlich weit entfernt von ihm niedergelegt hatte und eingeschlummert war, von ihm angezogen und verschlungen worden. Worauf man ihren Gürtel mit den Schlüsseln an den Ufern des Rheins gefunden hat, welcher Fluss doch vier Stunden von dem Lai da Calandari entlegen ist.
Es gibt aber noch viele andere Leute, welche, obschon sie nicht einen so kläglichen Tod wie jene Frau fanden, doch, als sie weit vom See eingeschlafen waren, mit den Füßen in ihm erwacht sind.
Etlichen Knaben aber, welche aus Lust sieben Pferde in den See gesprengt hatten, ist Folgendes passiert: Nachdem die Pferde mehr als drei Stunden in dem See geblieben, sind die Knaben in Furcht geraten, es möchten dieselben verloren sein; daher sie sich zusammen verstanden, Niemand zu offenbaren, dass sie Urheber dieses Unglücks gewesen. Wie sie aber so mit diesem Gedanken umgingen und sich von dem See hinwegbegaben, kam zuerst eine alte, graue Stute und dann die übrigen Pferde, je eines auf dem Rücken des andern fest angeschlossen, wieder aus ihm hervor. Auf dem Lande angekommen, fielen sie zwar um und lagen lange wie tot, sind aber hernach wieder zu sich gekommen. Wunderbar hierbei ist, dass alle sieben Pferde, obschon sie vorher beschlagen, doch sämtlich ihre Hufeisen in dem See verloren hatten.
C. Kohlrusch, Schweizerisches Sagenbuch. Nach mündlichen Überlieferungen, Chroniken und anderen gedruckten und handschriftlichen Quellen., Leipzig 1854.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.