Ein Mann von Matt im Sernfttal hatte von seiner ersten Frau zwei Knaben, die nach dem Tod ihrer Mutter eine gottlose Stiefmutter bekamen. Als der Vater eines Tages über Feld gegangen war, geriet das Haus unversehens in Brand, und da das Feuer sehr schnell um sich griff, konnte man nicht daran denken, sehr viel zu retten. Die Frau nahm also mit Hülfe der Nachbarn von ihrem Hab und Gut das Beste fort, die Kinder ließ sie verbrennen. Der Mann, der bald darauf zurück kam, empfand zwar über den Verlust seiner Wohnung große Betrübnis, aber untröstlich ward er, als er erfuhr, dass sein Weib beim Retten die Knaben für geringer geachtet hatte, als Betten und Vieh. Er ließ sie heftig darüber an, sie aber suchte sich durch falsche Vorwände herauszuhelfen, und als er ihr nicht glaubte, beteuerte sie, wenn sie lüge, wolle sie zeitlich verrinnen und ewig verbrinnen. Da musste er freilich schweigen.
Nicht lange hernach starb das Weib und ward auf den Kirchhof des Dorfes begraben, der um die Kirche her auf einem sanften grünen Hügel liegt. Gras und Blumen wuchsen auf ihrem Grab, wie auf anderen, und unten rauschte der Sernft vorüber.
Man hatte des Brandes schon vergessen, da kam in einer Nacht der Föhn, der wehte so heiß um die Eisfelder des Bündnerbergs und des Hausstocks, dass alle Bächlein wie Waldströme von den hohen Felsen in die Wiesentäler herabstürzten und der Sernft als ein tobender Strom Tannen und Felsblöcke dahinführte. Der Hügel, auf dem das Pfarrhaus und die Kirche von Matt noch liegen, erstreckte sich damals bis an das Ufer des Bachs und war mit seinen Nuss- und Ahornbäumen lieblich anzuschauen, jetzt stürmte das Wasser so gewaltig gegen ihn, dass ein Stück nach dem andern losging und in den Wellen verschwand. Die Särge der Toten wurden aus ihrer Ruhe gerissen, und man befürchtete schon den Einsturz der Kirche; aber ehe es so weit kam, hatte die Flut das Grab des bösen Weibes gefunden, der Sarg schwebte eine Zeit lang auf den Wellen, ging dann in Stücken und zerrann mit Allem, was darin war.
Da war der göttliche Wille erfüllt, und die Wasser verliefen sich so schnell, als sie gekommen waren; aber noch zeugt die öde, steinbedeckte Fläche zwischen Hügel und Bach von der Strafe des Meineids.
C. Kohlrusch, Schweizerisches Sagenbuch. Nach mündlichen Überlieferungen, Chroniken und anderen gedruckten und handschriftlichen Quellen., Leipzig 1854.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.