Zu Rom lebte einstmals ein vornehmer und mächtiger Mann, Namens Pontius Pilatus, welchen aber, trotz seiner Macht und seines Ansehens, die Strafe des irdischen Richters für die vielen Verbrechen ereilte, welche er begangen hatte. Er wurde zum Tode verurteilt. Stolz aber, wie er war, kam er der Vollziehung dieses Urteils dadurch zuvor, dass er sich selbst tötete. Als Selbstmörder wurde er nun, wie es damals Gebrauch war, in die Tiber den Fischen zum Frass vorgeworfen. Kaum aber war dies geschehen, so war es als ob sich die Pforten der Hölle öffneten. Es begann ein Unwetter zu wüten, welches kein Ende nehmen wollte. Da merkte man, dass dieser Aufruhr der Elemente von nichts anderem herrührte, als von dem ungeschickterweise in die Tiber geworfenen Leichnam des Pilatus, dessen Verbrechen selbst dieser Fluss dermassen verabscheute, dass er ihn nicht in seinen Fluten behalten wollte. Mit vieler Mühe wurde er also wieder ausgesucht, und siehe! als man ihn gefunden hatte, legte sich das Unwetter. Da aber der Leichnam doch irgendwo untergebracht werden musste, so wurde er nach Vienne im Delphinat geschafft und dort in die Rhone geworfen, welche ihm jedoch den gleichen Empfang bereitete. Unter Donner und Blitz zog ein Unwetter heran, bis die Bewohner jenes Landes den ungebetenen Gast wieder aus dem Wasser zogen und ihn, um ihn wieder los zu werden, nach Lausanne schafften. Da aber auch hier, wie in Italien und Gallien, Pilatus Ursache von Sturm und Wetter war, beschlossen endlich die Lausanner, nach reiflicher Ueberlegung, ihn in einen kleinen See zu werfen, welcher ohngefähr vierzig Stunden von ihrer Stadt auf den Alpen lag. In dieser Wohnung blieb er endlich, aber nicht ohne dieselbe von Zeit zu Zeit zu verlassen und als Gespenst die Alpen zu durchstreifen. Bald sah man ihn in dem Morast seines See's herumwaten, bald auf einem Felsen sitzen, bald im heftigen Streit mit noch einem anderen Gespenst, dem Könige Herodes, bald wie er in flüchtigem Lauf die Berge durchstreifte - immer aber war er der gleiche böse Geist, welcher die Umgegend mit Sturm und Wetter überzog, die Hirten auf den Weiden erschreckte, ihre Herden zersprengte und das beste Vieh von den Felsenklippen in den Abgrund hinab stürzte. Als Pilatus aber anfing sein Wesen immer ärger und ärger zu treiben und man seinen Leichnam doch in dem See behalten musste, da kein anderes Land ihn in mehr angenommen hätte, so wollten die Bewohner jener Gegend doch wenigstens versuchen, ob er nicht zur Ruhe zu bringen sei. Da traf es sich, dass eben ein fahrender Schüler, welcher zu Salamanka studiert hatte und zu den Rosenkreuzern gehörte, in die Schweiz gekommen war. Diesem versprach man eine große Summe Geldes, wenn er das Land von den Neckereien jenes bösen Geistes befreien und ihn auf ewig zur Ruhe bringen würde. Der Rosenkreuzer ging auf das Anerbieten ein und versprach sein Möglichstes zu tun. Er begab sich auch sofort auf die Verfolgung des Geistes, den er auch bald auf einer hohen Felsenspitze antraf. Er begann seine Beschwörungen. Wahrscheinlich dass diese nicht stark genug waren – genug, Pilatus wich nicht von dannen. Da sah der Rosenkreuzer sich gezwungen, Vorbereitungen zu stärkeren Beschwörungs-Formeln zu treffen. Zu diesem Zwecke begab er sich auf einen Hügel, welcher der Felsenspitze, auf der Pilatus sass, gegenüber lag. Hier erst begann der eigentliche Kampf, der so heftig wurde, dass von den Fußstössen des Beschwörers noch heutigen Tages ein Teil jenes Hügels ohne Rasen geblieben ist. Endlich wurden die Formeln so stark, dass Pilatus nicht mehr widerstehen konnte, und dem Beschwörer so weit nachgab, dass er sich zu dem Versprechen herbeiliess, sich fernerhin in dem See ruhig zu verhalten, wenn man ihm einen in eine schwarze Stute verwandelten Geist geben würde, um auf eine einem römischen Ritter würdige Art in seine Wohnung zurückkehren zu können, und ferner müsse es ihm erlaubt sein, des Jahrs einmal auf die Oberwelt empor zu steigen. Diese Bedingungen wurden ihm bewilligt. Als nun aber auf Befehl des Rosenkreuzers wirklich eine schwarze Stute, vor dem Pilatus erschien, sprengte er das Tier, nachdem er sich auf dasselbe hinaufgeschwungen, im Zorn über seine Niederlage zu solch heftigen Sprüngen an, dass man noch heute den Eindruck seiner Hinterfüsse auf einem der Felsen sehen kann, welche um den See herum liegen, der seit dieser Zeit den Namen "der Pilatussee" trägt.
Pilatus aber hat seinen Pakt seither treulich gehalten, nur am Karfreitag sieht man ihn bisweilen in der Kleidung einer Magistratsperson um den See herum irren. Dem, der ihn gesehen, ist jedoch der Tod noch vor Ende des Jahres sicher. Seine Bosheit aber zeigt sich nur noch, wenn er geschmäht wird oder Steine in seinen See geworfen werden, dann bricht sein Zorn in irgendeine Ueberschwemmung oder ein Ungewitter aus, das oftmals beim hellsten Himmel erscheint. Dass aber ein Erdbeben die Folge davon gewesen, dies ist indessen nur sehr selten geschehen.
C. Kohlrusch, Schweizerisches Sagenbuch. Nach mündlichen Überlieferungen, Chroniken und anderen gedruckten und handschriftlichen Quellen, Leipzig 1854.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch