Ein Bauer auf Itramen im Grindelwaldtale, namens Oswald, hatte 7 herrliche Kühe. Träge hatte sich Oswald eines Abends niedergelegt ohne Gebet. Da kommt ein graubärtiges Männchen aus der Fluhwand. Es hat ein langes Hirtenkleid an, ein Lecktäschlein (d. h. ein Salztäschlein für das Vieh) an der Seite und eine mannslange Rute schwankt in seiner kleinen Hand. Er jodelt nach Sennenart den Kühen zu, treibt sie sachte nach einem Felsrande und verschwindet wieder.
Ob dem Gemuhe des Viehes erwacht der Hirt und sieht seine köstlichste Habe verloren. Trauernd sucht er auf der öden Trift, aber vergebens. Von nun an sucht er täglich den Stall auf, wirft Heu in den Rechen und ist vom Morgen bis zum späten Abend geschäftig. Abends tut er, als melke er die Kühe der Reihe nach, ruft sie mit Namen und pfeift und summet dabei sein Liedlein. Er wusste wohl, dass die jähzornigen Bergmännchen voll Schalkheit und neckisch gegen das Hirtenvolk sind. Sie strafen jede rauhe und üble Rede.
Einmal, da er bergan lief, stürzte er nieder und murmelte einen Fluch. Er erinnert sich aber der Bergmännlein und arbeitet den Winter über so viel er kann. Und als der Frühling kommt, schreitet er hinauf zum Stalle, öffnete ihn, als liesse er sein Vieh in das Grüne, und das Herz ward ihm schwer, so herrlichen Graswuchs zu sehen, aber nicht Kühe, nicht muntere Kälblein dazu. Indem Oswald eben aus dein Stalle wieder ins Freie tritt und „hai" ruft, als jagt' er die verlornen Rinder hinaus, so gewahrt er am steilen Abhange die stracks auf ihn zu hüpfenden sieben Kühe zugleich, nur fettleibiger als sie gewesen, und neben jeder sprang ein Kalb lustig einher. Hinter dem Vieh aber schritt das Zwergmännchen mit dem Salztäschlein und der langen Gerte lächelnd daher.
Oswald staunte nur das Vieh an und bemerkte bald die grossen strotzenden Euter. Das Zwerglein nahete sich, wies stillschweigend nach dem Euter der vordersten Kuh, legte sich die Hand auf den Mund, zeigte sodann himmelwärts mit derselben, streckte den Zeigefinger empor und wies abermals nach der bezeichneten Kuh hin. Da schauderte dem Hirten, und indem er das Tier genauer ansah, ward er gewahr, dass am Euter eine von den vier Dillen (Streichen oder Zitzen) fehlte. Da verstand er die Gebärde des Männchens. Er besann sich und hielt dieses für eine Strafe seines Fluches. Doch war er nur froh, dass er die Kühe wieder bekommen hatte, zum Lohne für sein geduldiges Ausharren in mühsamer Arbeit.
Theodor Vernaleken: Alpensagen - Volksüberlieferungen aus der Schweiz, aus Vorarlberg, Kärnten, Steiermark, Salzburg, Ober- und Niederösterreich, Wien 1858
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.