Plurs, an der Maira oberhalb Cläven gelegen, war vor Zeiten ein so blühendes reiches Städtchen, dass man es sammt seiner schönen Umgegend Belfort, Schönflecken nannte; erst seit es verschüttet worden ist, hat es den Namen Plurs, Ort des Weinens. Seine Bewohner hatten sich des Seidenhandels nach Italien bemächtigt und betrieben neben dieser reichen Erwerbsquelle auch noch den Bau auf edle Metalle. An der Bergspitze des Rothhorns, oberhalb Churwalden, waren Silbergruben entdeckt worden von solcher Ergiebigkeit, dass Tag und Nacht der Zug der Maultiere unterwegs war, die das Erz zur Schmelze trugen*. Sogar kleine Bäche fliessenden Goldes soll es gegeben haben, an denen jeden Morgen und Abend eine Masskanne des reinsten gefasst werden konnte. Neben diesem grossen Reichtum hörte die Einfachheit des Älplerlebens bald ganz auf, Hochmut und gröbste Hartherzigkeit machte sich geltend. Alles was nicht Gold hatte und Gold einbrachte, das diente dem Volke nur zum Spotte. Man schämte sich der Erinnerung, dass man von armen Bergschäfern herstamme, dass man noch seit Menschengedenken in demselben groben Wollenrock einhergegangen sei, wie jeder andere Senne in den nächsten Alpenhütten auch. So stand es im Jahre 1618 in Plurs, als gerade eine Hochzeit mit niegesehener Pracht gefeiert werden sollte. Unter goldgestickten Baldachinen war man zur Kirche gegangen, auf Silbergeschirr hatte man gespeist, und jetzt erging man sich nach der Tafel an dem Gelände der Maira, wo das Brautpaar durch eine unerwartete neue Festlichkeit überrascht werden sollte. Da hörte man auf der nächsten Wiese ein Lämmchen kläglich nach der Alten blöcken, und dies Geschrei missfiel den zarten Ohren der Braut.
Kaum hatte sie sich darüber geäussert, so erboten sich die Begleiter, das Tier zum Schweigen zu bringen. Mit herzlosem Übermute banden sie es an vier Pflöcken am Boden fest, um es lebendig aus dem Felle zu schinden. Die feine Gesellschaft hielt den Einfall sogar für witzig und schlau, ein verlaufenes Tier, das man auf eignem Gute hätte wegnehmen und totschlagen können, seinem Herrn lebend, nur ohne Pelz wieder heim zu schicken. Endlich war der Frevel geschehen und dem Tiere die Haut abgezogen. Aber eine solche Grausamkeit gegen arme Tiere und arme Leute sollte nicht unbestraft bleiben, der übermütige Ort war zum Untergange reif. Die zwei gegenüber liegenden Berge Simetta und Gonto warfen plötzlich grässliche Spalten, bodenlose Risse taten sich auf, ringsum bebte und dröhnte es in Höhen und Tiefen, und beide Berge stürzten ihren Felsengipfel nieder. Nicht blos die Hochzeitsgesellschaft ging zu Grunde, unter Donner und Nacht war die ganze Stadt verschlungen; bis über die Turmspitze der Hauptkirche hinaus liegt heute noch der Bergschutt. So liegen sie alle begraben die Paläste und Landhäuser der Reichen, die Waarenhallen voll Gold und Seide, sammt ihren verwilderten Bewohnern; die zahllosen Felsstücke des Simetta sind ihr Grabstein. An jenem Tage, da der Ort unterging, wurde mancher Saumtiertreiber oder Fuhrmann in der Schweiz plötzlich ein reicher Mann; denn heute waren die Seidenballen und Frachtgüter der Plurser unterwegs herrenlos geworden und blieben in seiner Hand. Ein solcher liess sich bald darauf zu Basel einen Garten mit Einfahrt und Portal anlegen und setzte die Inschrift drauf: An Gottes Segen ist alles gelegen. Ein Packknecht aber aus dem dortigen Mauthhause wusste wohl, wie dieser Segen gekommen war, und schrieb darunter:
Du hättest wenig Segen,
Wenn Plurs nicht wär' erlegen.
Über den Untergang von Plurs, der am 4. Sept. 1618 erfolgte, hat man umständliche gleichzeitige Nachrichten. Der Pfarrer Barthol. Anhorn meldet in seiner Schrift, Zornzeichen Gottes (Basel 1665, 396), es seien am Tage vor jenem Bergstürze zu Plurs alle Bienen aus ihren Bienenkörben weggeflogen. Es wurden 2430 Menschen zusammen verschüttet, auch das Dorf Cilano ging mit zu Grunde, nur 12 Erwachsene und 3 Kinder entgingen von allen dem Tode. Der Schutt des herabgestürzten Berges Gonto liegt an vielen Orten über sechzig Fuss hoch, schon wächst ein grosser Kastanienwald drüber hin. Die Gier der Leute, welche von dem hier mitverschüttet liegenden Geldschätzen fabeln, hat bis zur Stunde nicht nachgelassen, in der Verwüstung herum zu graben.
Man schlug anfangs bergmännische Gänge in den Schutt und hatte eine Kirchenglocke herausgebracht, die jetzt in dem Turme von Prosto hängt. Das grosse Ziel war, auf den Platz der Pfarrkirche vorzudringen, die so reich gewesen sein soll an Gold und Silbergefässen und an Edelsteinzierden. Allein die in ihrem Laufe gestörte Maira nahm sich den ganzen Schuttkegel zum Flussbette, ihr Wasser hat den lockern Boden längst durchwühlt und also aus dem Grunde auch die Trümmer der Kirche erreicht. Als im Winter 1858 das Mairabette trocken lag, grub man eine wohlklingende Glocke heraus, mit der Jahrzahl 1597.
Jetzt eben im Winter 1861 heisst es, man sei daselbst aus einen Keller gestossen mit 30 Fässern; alles schwelgt schon in der Erwartung, sie würden noch gefüllt sein mit herrlichen alten Veltlinerwein, der zum wenigsten vom Jahrgänge 1617 sein müsste.
Ältere und neuere Berichte über diese Begebenheit finden sich bei Bridel, kleine Fussreisen durch die Schweiz, 1797. I, 221. – Leonhardi, Bündner-Vierteljahrschrift 1849, I. – Röder, der Kanton Graubünden I. 47, 265.
* Für die eine Familie Wertemate-Franchi allein arbeiteten 200 Knappen und trugen täglich 16 Maultiere das Erz aus den Gruben über die Berge.
Band 3.1., Quelle: Ernst L. Rochholz, Naturmythen, Neue Schweizer Sagen, Leipzig 1962, S. 83 - 84
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung www.maerchenstiftung.ch