Hoch über dem linken Rheinufer in Bünden erhebt sich die Bergkette Calanda. Die Höhen derselben sollen früher viel fruchtbarer gewesen sein als jetzt. Die Kühe, welche man dreimal des Tages gemolken, nährten sich namentlich von einem Kraut, das Zyprion hiess, auch von Muttern, Ritz und Milcherkraut. Stellen, die jetzt öde sind, waren früher mit dem herrlichsten Grün bekleidet. Auf diesen grünen Weiden lebten fröhliche Sennerinnen. Einst aber erwachte unter ihnen ein böser Geist. Sie zogen um Mitternacht auf den Hexenboden, wo jetzt noch schwarzes Gras wächst. Hier versammelten sie sich und hielten ihre nächtlichen Tänze. Sie wurden einst überrascht von einem Jäger, der einer Gämse dahin gefolgt war. Die jüngste Sennerin ging auf ihn zu und bot ihm lächelnd ihre Hand. Von ihrer Schönheit geblendet, liess er sich lange von ihr zurückhalten. Und als der Morgen tagte, eilten alle zu Tal, um die Kühe zu melken. Die Sennerin sass aber noch immer bei ihrem Jäger, von dem sie sich nicht trennen konnte. Da rief ihr eine ihrer Schwestern zu: "Komm, die Kühe warten schon da unten!" "Ach", entgegnete sie, "immerfort melken! Ich wollte, ich wollte, dass die Kräuter längst verdorrt wären." So verfluchte sie das Zyprion, Muttern und Ritz. Und als der Jäger das hörte, sprang er auf und rief: "Behüte mir Gott das Muttern und Ritz!" Das Zyprion hatte er vergessen. Darauf sind alle Weiden verblasst. Noch sieht man jetzt das Zyprion als falbes Kraut, wie vom Winterfrost verdorrt. Wenn man es bricht, so sieht es weiß aus wie Milch, aber keine Kuh frisst davon.
Quelle: Theodor Vernaleken, Alpensagen - Volksüberlieferungen aus der Schweiz, aus Vorarlberg, Kärnten, Steiermark, Salzburg, Ober- und Niederösterreich, Wien 1858.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.