Der mutige Sigristensohn im Dorfe Kulm war ein Jugendgespiele jetzt bejahrter Männer des Kulmertales. Sein Vater wusste den wilden Buben nicht zu bändigen und meinte seinen Übermut durch allerlei Schreckmittel dämmen zu sollen. So stellte er einmal einen Strohmann in den Kirchturm und schickte dann den Knaben bei Nacht in den Turm hinauf, dorten noch die Uhr aufzuziehen. Der schlägt aber einfach den Popanz über die Stiege hinunter und bringt ihn dann lachend in die Stube herein gehuckelt.
Der Vater merkt endlich, hier müsse man etwas Klügeres beginnen und lässt ihn das Schneiderhandwerk lernen, um ihn in die Fremde zu schicken, in der er sich die Hörner abstossen soll. Der Sohn blieb aber der Gleiche.
Auf seiner Wanderschaft wollte er einst mitten im Walde in einem einsam liegenden Häuschen übernachten; aber niemand öffnet und er erbricht zuletzt die Türe. Kein Mensch ist drinnen, doch brennt auf dem Tische ein Licht. Während er sich's dabei bequem machen will, kommen zwei Männer in die Stube getreten, die ihn einige Zeit anstutzen, dann aber nach kurzem Gespräche ihm gestehen, das Haus habe gar keinen Herrn mehr, denn es sei gespenstisch, ihnen aber diene dieser Umstand dazu, ihre Diebereien hier verbergen zu können. Der Geselle, der um das Nähere fragt, vernimmt, eine weisse Frau hüte hier einen Schatz und erscheine regelmässig um die Geisterstunde; und so verbünden sie sich zu dritt, heute diesen Schatz zu erheben.
Aber bis Mitternacht ist's noch lange, der Hunger ist nicht gering, die Diebe haben Mehl und Schmalz im Hause; also sucht der Geselle ein Mahl zu rüsten, macht in der Küche ein Feuer auf und in kurzer Zeit küchelt er schon am Herde. Da hört er, noch ehe die anberaumte Mitternachtsstunde da ist, aus dem Schlot herunter eine Stimme rufen: Flieh, oder ich falle! - Nur zugefallen! antwortet er unbesorgt, und gleich fällt ein Schenkel durch den Kamin herab auf den Herd. Er schleudert denselben in einen Winkel der Küche, tut die Pfanne wieder übers Feuer und röstet weiter an den Schmalzküchlein. Bald hört er die Stimme aus dem Schlote abermals und gibt abermals dieselbe Antwort, da liegt der andere Schenkel vor ihm am Herde. Er wirft ihn zum ersten hinter, und so geht es fort, bis zuletzt alle Glieder und Stücke eines Menschenkörpers da sind. Sobald er auch den Kopf zu den übrigen Teilen hinter geworfen hat, fügt sich alles zusammen, ein grosser Mann richtet sich hinten in der Küchenecke auf und tritt zu ihm heran.
Der Bursche fragt ihn höhnisch, wo er denn sein Weib habe? Sie wird nachkommen, ist die Antwort. Um so besser, sagt der Geselle, setz dich also derweilen dorten in jene Ecke. Der Mann gehorcht und der Geselle trägt nun sein fertiges Gebäcke auf. Als er mit der Schüssel über den Hausgang in die Stube gehen will, kommt ihm eine schneeweisse Frau entgegen. Aha, sagt er, das ist wohl diejenige, welche hier den Schatz hütet. Nun ja, so mag sie vor der Hand zu Tisch kommen und ihren Mann, der dorten im Winkel sitzt, mit herbeibringen!
So geht er mit der Schüssel voran in die Stube und das Paar folgt ihm. Alle sitzen zu Tisch, jedoch wollen die zwei Geister nichts geniessen. Nach dem Essen fordert der Geselle die Frau auf, ihm die Mittel anzugeben, wie sie erlöst werden könne und verspricht ihr, standhaft und beherzt bleiben zu wollen. Nun zündet sie ihm bis zu einem altertümlichen Bette voran, in welchem ein gewichtiger Schlüssel liegt; dieser passt im Hauskeller zu einer Eisentüre und nach dreimaligem Umdrehen geht das Schloss auf. Die Frau tritt mit dem Licht hinein. Da erblicken sie im Gewölbe einen Hahn mit feurigem Kamm, der sich auf dem Rücken eines gewaltigen Zottelhundes ausspreizt. Der Hund aber kauert knurrend auf einer grossen Kiste, während der Hahn dazu kräht, dass er sich selber fast überpurzelt.
Der Schneider lässt sich von allem nicht dumm machen. Aller Grimassen ungeachtet verscheucht er erst die Ungetüme und schliesst, sobald sie zum Keller draussen sind, die Türe zu. Dann legt er wohlbesonnen sein Schurzfell ab. Mit dem zweiten Schlüssel, den ihm nun die weisse Frau einhändigt, öffnet er die Kiste und sie liegt bis oben voll Gold. Sogleich aber wirft der Geselle sein Schurzfell darüber, weil man jedem Geisterschatze, der nicht mehr entweichen soll, etwas von unsern eigenen Sachen beilegen muss. Kaum ist dies geglückt, so sagt er der weissen Frau und ihrem Manne, jetzt könnt ihr gehen, und augenblicklich sind beide verschwunden. Nachher haben sich die drei, der Schneider und die Diebe, in die Schätze friedfertig geteilt, und der alte Sigrist von Kulm sah seinen Sohn als reichen Mann wiederkehren.
Quelle: Ernst L. Rochholz, Schweizer Sagen aus dem Aargau, Band 1 Aarau, 1856
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch