Aus dem Tal des rauschenden Kiesenbaches führt von Oberdiessbach eine gut gebaute Strasse hinauf ins hochgelegene Tal von Linden und hinüber nach Röthenbach. Auf der Wasserscheide liegt der Grafenbühl. Hier soll, wie uns die Sage berichtet, auf hohem Felsen ein festes Schloss mit dicken Mauern, mächtigen Türmen und tiefen Gräben gestanden haben. Finster schauten die Türme ins Land, noch finsterer aus den engen Mauerlöchern der Zwingherr, der auf dem Schloss hauste. Er soll ein harter, ungerechter Mann gewesen sein, der die Kaufleute auf dem Wege überfiel, ihnen ihre Habe wegnahm und sie umbrachte oder ins dunkle Burgverlies steckte, wenn sie wagten, sich zur Wehr zu setzen. Nicht weit vom Schlosse lebte ein biederer Landmann mit seinem Weibe. Ihre Freude und ihr Stolz waren zwei brave Kinder, ein fleissiger Sohn und eine blühende Tochter. Die hiess Berta. Ihre Wangen blühten wie die Hagröslein am Waldsaum, die Augen leuchteten wie der Enzian im Wiesengrund, und golden wallte ihr Haar um Schultern und Wangen.
Einmal geschah es, dass der Zwingherr die Jungfrau bei der Arbeit erblickte. Sie gefiel ihm so sehr, dass er sie durch seine Reisigen gefangen ins Schloss führen liess. Sie sollte seine Frau werden. Das Mädchen wehrte sich aber, das Weib eines Räubers zu werden und weinte bitterlich hinter den hohen Mauern und starken Eisengittern.
Auch im Hause des Bauern herrschte Trauer. Mit tiefem Weh im Herzen gingen Vater, Mutter und Sohn der Arbeit nach. Der Sohn schwur dem Burgherrn bittere Rache. Nicht eher wollte er ruhen, als bis er die Schwester befreit und das finstere Schloss mit Hilfe seiner Freunde in Trümmer gelegt hatte.
Eines Tages pflügte der Bauer mit seinem Sohn einen Acker. Da kam der Tyrann hohnlachend dahergeschritten. «Deine Zeit ist um!» schrie der Jüngling, erhob mit kräftigem Schwung seine Hacke und liess sie auf das Haupt des Zwingherrn niedersausen. Der Getroffene stürzte entseelt zur Erde und wurde an der nämlichen Stelle verscharrt. Darauf riefen die beiden die Talleute zusammen, sie erstürmten das Schloss und warfen den Feuerbrand hinein, so dass keine Spur von der stolzen Feste übrig blieb.
Kein Buch nennt die Namen der mutigen Talleute, nur auf der Ofenbank erzählt noch heute der Grossvater seinen Enkeln die Geschichte von dem wüsten Zwingherrn auf dem Grafenbühl.
Emmentaler Sagen, Hermann Wahlen, 1962 Gute Schriften Bern
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.