Der Meyer auf der Mutte

Land: Schweiz
Region: Emmental
Kategorie: Sage

Vor uralter Zeit stiftete zu Schweinsberg im obern Emmental eine reiche Witwe, deren Söhne im Krieg erschlagen worden waren, ein Klösterlein. Sie bestimmte in der Stiftungsurkunde, dass darin je zur Hälfte Witwen und Jungfrauen Aufnahme finden sollten. Die Einnahmen wurden zu gleichen Teilen für den Unterhalt der Insassen und für die Armen bestimmt.

Kurz vor ihrem Tode legte die Gründerin, die dem Kloster als Äbtissin vorstand, die Leitung in die Hände der ältesten Ordensschwester mit dem ausdrücklichen Wunsche, dass es auch in Zukunft so gehalten werden sollte.

Im Frieden und in guter Zucht blühte das Klösterlein beinahe hundert Jahre. Da geschah es, als wieder eine Äbtissin starb; dass die älteste Schwester nicht imstande war, das Amt zu übernehmen. Weil die Gründerin mit dieser Möglichkeit nicht gerechnet hatte, entstand Uneinigkeit im Gotteshaus. Es bildeten sich zwei Parteien, und jede suchte die Oberhand zu gewinnen. Darüber zerfiel die Klosterzucht, und die edle Aufgabe der Stiftung, die Pflege der Armen, blieb vergessen.

Im Laufe der Zeiten hatten mehrere Töchter aus dem Geschlecht der Meyer auf der Mutte die Würde einer Äbtissin innegehabt. Dabei waren sie eifrig darauf bedacht, heimlich einen goldenen Sparpfennig für die Zeiten der Not beiseite zu legen. Die letzte Äbtissin dieses Geschlechts, die Brunhilde, kannte weder Furcht vor den Menschen, noch vor Gott. Mit Wohlbehagen mehrte sie den geheimen Schatz.

Da zog der Schwarze Tod ins Land, und die Menschen fielen unter den Streichen seiner Sense wie das Gras auf der Wiese. Der Schrecken eilte ihm meilenweit voraus, und die Menschen wandten sich betend zu Gott. Nicht aber die Äbtissin zu Schweinsberg. Sie schalt das Volk, das in gedrängten Scharen täglich die Klosterkirche füllte, wegen seiner Furcht.

Eines Morgens war die Kirche verschlossen, und im Klösterlein herrschte Totenstille. Als das Volk unruhig wurde, ertönten dumpf und schaurig von der Höhe der Kirche herab dreimal die Worte : «Der Tod ist da, der Tod ist da, der Tod ist da! » Und wie sie langsam und grausig verklangen, erstarrte allen, die sie hörten, das Blut zu Eis. Ihre Gesichter erbleichten, ihre Zähne klapperten, als schüttelte sie das Fieber. Und wie der Ruf aufs neue die Stille durchbrach: «Der Tod ist da! » da schrie das Volk, als schwänge der Knochenmann seine Sense über ihm.

Vernehmlich ertönte das höhnische Gelächter der Äbtissin hinter den Fliehenden her. Sie war es, die mit dem Volk dergleichen Spuk getrieben, damit es bei seinen Wallfahrten nicht etwa die Pest nach Schweinsberg verschleppe. Mit der Äbtissin lachte die freche, schöne Krimhilde. Sie hatte auf Geheiss ihrer Tante den Schauerruf erhoben. Umsonst hatte die jüngste der Nonnen, die Fideli, sie davon zurückzuhalten versucht. Aber kaum war die frevle Tat vollbracht, stieg ein dunkles Blau in Krimhildens Gesicht, ihre Augen röteten sich, und der schöne Leib erstarrte. Umsonst bespritzte sie die Äbtissin mit Weihwasser und brachte sie zu Bett, am andern Morgen war sie eine Leiche. Der Schwarze Tod hatte sie hinweggerafft. Auch die andern Insassen des Klosters erfasste er. Einzig Fideli blieb verschont.

Als die Äbtissin unter furchtbaren Qualen sich von ihm ergriffen fühlte, eilte sie ans Tor, es zu öffnen. Sie vermochte es schon nicht mehr und fiel davor zu Boden. Da beugte sich Fideli über die Oberin, ihr helfend beizustehen. Mit gebrochener Stimme keuchte die Sterbende: «Lauf auf die Mutte zu meinem Bruder und sag ihm, der Tod sei da. Bring ihm diesen Schlüssel. Hinter dem Altar könne er ihn brauchen. Das Halbe gehöre den Armen, vom andern Halben dürfe er nichts z'unnütz ausgeben, sonst brenne auch er in der Glut. Lauf, lauf und sag's, wo nicht, so brenne ich ewig! »

Fideli eilte hinweg, ward auf der Mutte gesehen und nachher nicht mehr.

Indessen war der Schwarze Tod auch ins Tal gedrungen und hauste fürchterlich. Nur wenige blieben am Leben. Das Klösterlein wurde ein Raub der Flammen. Der Meyer auf der Mutte war mit dem Schlüssel vor der Pest geflohen, willens, den Schatz zu heben, sobald der Schwarze Tod sich gelegt und die Gefahr vorbei sei. Aber wohin er sich wandte, überall folgte ihm der Tod auf den Fersen und mit ihm das grause Bild seiner Schwester, die um Erlösung flehte. Endlich, in einem fremden Lande, ereilte der Tod den Flüchtigen. Der Schlüssel wurde mit ihm begraben. Aber im Grabe fand der Unglückliche keine Ruhe. Nach neunundneunzig Jahren durfte er endlich einen suchen, der den Schatz höbe, ihn nach Vorschrift verwende und ihn dadurch erlöse. Aber er fand keinen, und von neuem begann seine Pein. Zuletzt soll er vor vielen Jahren einem Emmentaler Bauer erschienen sein. Der habe sich sieben Tage Bedenkzeit genommen und die Angelegenheit mit seiner Frau besprochen. Sie aber fand die Bedingung, keinen Kreuzer z'unnütz auszugeben, zu schwer. So etwas wäre Gott versucht. Daran scheiterte die Erlösung. Nach weitern neunundneunzig Jahren darf der Meyer auf der Mutte wieder nach Erlösung Umschau halten. Möge sie ihm gelingen!

Emmentaler Sagen, Hermann Wahlen, 1962 Gute Schriften Bern

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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