Vor vielen hundert Jahren brachten einmal die Pestleutchen den großen Tod aus fremden Ländern in die Walliser Berge. Niemand konnte ihn sehen, obwohl er Tag und Nacht im Lande umging und fürchterlich hauste. Besonders bös trieb er's in Richelsmatt und Lauinen. In Richelsmatt hat damals ein Kindlein alle seine Verwandten bis auf den neunten Grad in einer einzigen Nacht beerbt, denn der große Tod brachte sie alle um. Und eine so gewaltige Anzahl Menschen tötete der große Tod, daß eine Kuh während zwölf Stunden bis an den zehnten Bauern kam, da alle vor ihm weggerafft wurden.
Als nun die geheimnisvollen Pestleutchen den großen Tod auch nach Ernen brachten und er da als ein schreckliches Ungeheuer, das niemand sah, alt und jung hinwürgte, entfloh der Landeshauptmann Michel Tschampen bis ins Rippbei, etwa drei Stunden hinter Ernen. Da, im einsamen Rappentale, glaubte er sich vor dem großen Tod sicher.
In Ernen aber ward es immer schlimmer, und als der Rat eines Abends noch zusammen des Landes Not beredete, rief der große Tod vom Walde herunter: "Ich gehe nicht von Ernen weg, bis auch das Männchen in Rippbei im Rappentale heraus ist!" Jetzt schickte man noch in der gleichen Nacht nach dem flüchtigen Landeshauptmann Michel Tschampen. Er sollte entweder gutwillig oder dann mit Gewalt nach Ernen zurückgebracht werden. Wie jedoch der Mann in Rippbei die Leute, die ihn fangen und nach Ernen zurückführen sollten, kommen hörte, merkte er wohl, was das zu bedeuten habe. Er machte sich hinten zur Hütte hinaus und flüchtete sich heimlich bis nach Grindbiel, wo er sich in einem abgelegenen, unbewohnten Unterschlupf versteckte. Hier suchte ihn sicherlich kein Mensch mehr, denn niemand zu Berg und Tal vermutete ihn in dieser weltverlorenen Hütte. Michel Tschampen freute sich daher, dem großen Tod entflohen zu sein, und ließ sich von dem Gedanken, daß nun seine Talgenossen dahingewürgt würden, nicht allzu sehr bedrücken. Er begab sich also ziemlich frohgemut aufs Heulager.
Am andern Morgen stand er lange und froh aufatmend am Kammerfensterlein und sah muntern Auges in die aufhellende Bergwelt hinein. Wie glücklich fühlte er sich, dem großen Tod so fein entronnen zu sein! Da kam ein Kätzlein vor das Fenster und begehrte, kläglich miauend, Einlaß. Michel Tschampen freute sich, daß noch ein lebendes Wesen bei ihm in der Einsamkeit sei, und öffnete sogleich das Fenster. Jetzt sprang das Kätzlein auf das Fenstergesims und dann auf seine Schulter, strich ihm liebkosend um die Wangen und sagte auf einmal: "Rippbeimännlein, jetzt ist's Zeit!" Und flugs war es wieder zum Fenster hinaus. Starr und steif blickte ihm der Mann nach, aber das Kätzlein war spurlos verschwunden. Entsetzen packte ihn, denn nun wußte er, daß der große Tod bei ihm gewesen war. Schon ging's ihm eiskalt durch alle Glieder. Da machte er sich aus der Hütte und wanderte mühselig und krank nach dem Dorfe Ernen. Kaum hatte er's betreten, so starb er. Von dieser Stunde an nahm das Sterben ab, und nach wenigen Tagen war das grause Gespenst, der große Tod, für immer aus Ernen verschwunden.
Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.