Dem Hohgant gegenüber hält ein zweiter trutziger Flankenturm, der Schibegütsch, die Wache über die junge Emme. Er ist der südlichste Gipfel der Schrattenfluh, eines aus mächtigen Kalksteinbänken aufgebauten Bergzuges, der auf der Westseite steil abfällt, auf der Ostseite sich sanft gegen das stille Mariental abdacht. Von Sörenberg aus ist die Schratten wie ein Schneefeld anzusehen. In Wirklichkeit tritt aber auf einer Fläche von etwa anderthalb Stunden Länge und einer halben Stunde Breite der kahle Schrattenfels mit weiten oft mannstiefen Löchern und Rinnen und messerscharfen Gräten zu Tage. Kein Gras, weder Baum noch Strauch gedeiht darauf.
Von diesem riesigen Schrattenfeld und einer tiefen Höhle unter dem Felskopf des Schibegütsches erzählt die Sage folgendes.
Die jetzt kahle Schratten war einst die schönste Alp im Lande. Damals gehörte der Berg zwei Brüdern, die gemeinsam darauf ihr Vieh sömmerten. Einer von ihnen wurde blind, und sie beschlossen, ihre Güter zu teilen. Der Blinde überliess dem Bruder vertrauensvoll die Teilung. Der übervorteilte ihn aber, indem er seine Marchen so weit hinausschob, dass jene prächtige Alp sein Eigentum wurde.
Der ungerechte Bruder hatte eine Tochter, um die wegen ihres Reichtums und ihrer Schönheit die vornehmsten Bauernsöhne des Landes warben. Sie wollte aber nur dem ihre Hand bieten, der den Felsenkopf des Schibegütsch erklimmen würde. Mancher fand bei diesem Wagnis den Tod. Da erhob sich allgemeiner Unwillen gegen die stolze Tochter und den ungerechten Vater. Die Leute hinterbrachten dem Blinden, dass er von seinem Bruder betrogen worden sei. Er stellte ihn darob zur Rede und verlangte genaue Auskunft. Da tat der Bruder einen furchtbaren Eid. Der Teufel solle die ganze Weide zerreissen und ihn und sein Kind nach Verdienen strafen, wenn er ihn übervorteilt habe. Aber kaum waren seinem Mund die frevlen Worte entfahren, erbebte der ganze Berg, der Teufel erschien und kratzte im Nu alle Erde von der Weide des Betrügers weg, so dass man noch heute überall im nackten, zerrissenen Felsen die scharfen Spuren seiner Krallen sieht. Die Weide des Blinden aber blieb verschont.
Der falsche Betrüger ist spurlos verschwunden. Die Leute sagen, der Böse habe ihn bei lebendigem Leibe mit sich in die Hölle entführt.
Die hochmütige Tochter aber sitzt in der Höhle unter dem Schibegütsch in der Verbannung. Dort muss sie die reichen Schätze ihres ungerechten Vaters hüten bis zum jüngsten Tag. Viele, die sich unter Lebensgefahr in die Höhle hineingewagt, sollen grosse Klumpen Gold draus zurückgebracht haben.
Der ewige Jude Ahasverus ist schon dreimal hier vorbeigewandert. Das erstemal war die Schratten ein Weinberg, hernach eine Alpweide und zuletzt ein zerschrundeter Felsenboden.
Emmentaler Sagen, Hermann Wahlen, 1962 Gute Schriften Bern
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.