Neben den eigentlichen Zwergen, deren besondere Aufgabe es war, die guten Leute vor Unglück zu bewahren und für ihre guten Taten zu belohnen, gab es auch ein Völklein, das besonders des Nachts sein bösartiges Wesen trieb. Gewöhnlich hauste es im Herbst, wenn die Älpler ihre gesömmerten Herden zu Tal getrieben hatten, in den verlassenen Sennhütten und führte ein wildes Leben. Auf seinen Reisen rauschte es durch die Luft, als ob gewaltige Adler vorüberschwirrten. Zuweilen sah man die grauen Schatten des düstern Zuges vorbeigleiten. Nach der Alpabfahrt von Rämisgummen — die Sennen waren schon mehrere Stunden von der Weide entfernt — bemerkte der Hirt, dass ihm eine Kuh fehlte. Weil er ihr ein paar Tage zuvor das Kälblein weggenommen hatte, vermutete er, sie möchte auf die Alp zurückgekehrt sein, um ihr Junges zu suchen. Er schickte einen Knecht zurück mit dem Auftrag, sie zu holen. Und wirklich fand er das Tier auf der Weide. Da es aber zu spät war, noch am gleichen Abend den Berg wieder zu verlassen, trieb er die Kuh in den Stall und legte sich ins Bett zur Ruhe.
Kaum war er eingeschlummert, ging ein Brausen und wildes Lärmen durch die Sennhütte. Das Nachtvolk hielt seinen Einzug und feierte die Talfahrt der Hirten mit einem grossartigen Fest. Es traf alle Anordnungen zu einem üppigen Mahl. Die Kuh wurde geschlachtet und geschmort. Lauter Festjubel erfüllte die Hütte. Obwohl der Senn die Bettdecke über die Ohren gezogen hatte, musste er dennoch den Tumult der nächtlichen Gesellen anhören. Er betete zu Gott, dass ihn die Bolde nicht entdecken möchten. Als sie aber am besten daran waren, rief einer, dass es der Senn hören musste : «Wir wollen dem da oben im Gaden auch etwas zu essen geben ! » Der erschrockene Hirt kroch noch tiefer unter seine Decke und wäre lieber unter Wilden als in dieser Gesellschaft gewesen. Wie aber eines von den Männlein die Leiter emporstieg und ihm ganz friedlich ein Stück Braten anbot, wich der Schrecken aus seinen Gliedern, und er dachte : «Wenn doch die ganze Kuh mit Stumpf und Stiel aufgezehrt sein muss, so will ich auch meinen Anteil davon haben.»
Und wirklich, das Stück war so vortrefflich zubereitet, wie er's in seinem Leben noch nie gegessen hatte.
Wie der Morgen graute, wurde es nach und nach still in der Hütte, und der nächtliche Spuk verschwand. Der Knecht sorgte sich der Vorwürfe wegen, die ihm der Meister um der verlorenen Kuh willen machen würde. Aber wie freudig war er überrascht, als er deutlich das Brüllen des Tieres aus dem Stall herauf vernahm. Als er drunten Nachschau hielt, stand die Kuh im Stall, wie er sie am Abend zuvor hineingetan hatte. Einzig an einem Schenkel fehlte das Stück Fleisch, das ihm in der Nacht so ausgezeichnet gemundet hatte. Die Wunde hatte auch zur Folge, dass das Tier hinten lahm ging.
Emmentaler Sagen, Hermann Wahlen, 1962 Gute Schriften Bern
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.