Es war an einem Sonntag nach St. Othmar. Da kam von Bürglen her, einem Dörflein am Eingang des wilden Schächentales, mit festem Berglerschritt ein Mann gen Altdorf hinuntergegangen. An der Hand führte er seinen jüngeren Knaben Walter. Auf der Schulter trug er seine schwere Armbrust. Das war Wilhelm Tell, der beste Gemsjäger im Lande Uri. Er wollte zu Besuch gehen bei seinem Schwiegervater Walter Fürst in Altdorf.
Als er nun mit seinem Söhnchen vom Zeitglockenturm her über den Hauptplatz lief, machte ihn sein Knabe auf eine lange Stange aufmerksam, die mitten auf dem Platze stand und die zwei Waffenknechte des Landvogts Geßler bewachten. Auf der Stange aber hing ein Hut mit einer Pfauenfeder. Viele alte Weiber und Kinder, aber oft auch ein Mann, gingen am Hute vorbei und knicksten höhnisch oder neigten ihr Haupt, rauchend vor Scham. Doch der Tell schien das alles nicht zu bemerken und wollte aufrechten Hauptes und festen Ganges mit seinem Büblein am Hut auf der Stange vorbeischreiten.
Da sprangen die beiden Wächter vor, streckten ihre Lanzen aus und ließen den Schützen nicht weiter. Und als er in ihre vorgehaltenen Spieße griff und unwillig fragte, warum sie ihn nicht seines Weges gehen ließen, antworteten sie, er habe dem Hut nicht die schuldige Reverenz erwiesen und müsse nun mit ihnen zum Landvogt kommen, um als ein Verräter an der kaiserlichen Majestät seine Strafe zu gewärtigen. Der Hut sei vom Landvogt an die Stange gehängt worden, um den Sinn und Geist des Volkes zu prüfen, und er hätte sich vor ihm verneigen sollen wie vor dem Kaiser selbst.
Aber der Tell drückte ihre Spieße zur Seite und sagte, er beuge sich vor niemand als vor Gott und lasse sich von ihren zwei Eisenstangen nicht aufhalten. Die Knechte rangen mit ihm, und sein Knabe rief um Hilfe, also daß die Leute von Altdorf von allen Seiten herbeieilten, unter ihnen auch Walter Fürst, der Großvater des kleinen Walter.
Eben wollte Tell den zwei Waffenknechten die Spieße entreißen, da ließ sich Pferdegetrappel vernehmen, das rasch die Dorfgasse heraufkam. Und auf einmal ritt Geßler, der Landvogt, heran mit seinem bewaffneten Troß und Gefolge. Als er nun bei dem aufgesteckten Hute stand, fragte er die Knechte, was sie mit diesem
Manne hätten. Da schrie einer der Wächter: "Herr, er hat vor dem Hute das Haupt nicht geneigt!"
Jetzt blickte der Landvogt Geßler mit unheilverkündenden, finsteren Augen auf den Schützen Tell. Er kannte ihn gar wohl und haßte ihn, weil er nicht lange vorher einem Unterwaldner Bauer, der den frevelhaften Untervogt der Burg Rotzberg erschlagen hatte, über den sturmgepeitschten See half und ihn so vor seinen Verfolgern errettete.
"Warum hast du dem Hut nicht Respekt bezeigt?" fragte er jetzt barsch den Schützen. Nun versuchte sich Wilhelm Tell zu entschuldigen und sagte: "Vergebt mir, Herr! Es geschah aus Unverstand, denn wäre ich klug, so hieße ich nicht der Tell." Doch der Landvogt hatte Böses vor. Er dürstete danach, diesen aufrechten Mann, den er heimlich fürchtete, zu verderben. Und also fragte er ihn: "Tell, hast du Kinder?" - "Ja, zwei, Herr", antwortete der Schütze. - "Welches ist dir das liebste?" fragte Geßler weiter. "Es sind mir beide gleich lieb, Herr", sagte Tell, der Unheil zu merken begann. Da erblickte der Landvogt neben dem Schützen den kleinen Walter. Und jetzt sagte er, voll Bosheit lächelnd: "Tell, ich weiß, daß du ein berühmter Schütze bist. Du triffst ja die Gemse im Sprung, den Vogel im Flug. Wohlan, ich will dir nun ein Ziel geben, wo du deine ganze Schützenkunst zeigen kannst. Habe acht, daß du's nicht verfehlst. Du sollst einen Apfel vom Haupte deines Kindes schießen. Verfehle ihn ja nicht, sonst ist dein Leben verwirkt."
Da schrie alles Volk auf. Die Frauen rangen jammernd die Hände, und die Männer ergrimmten. Auch der Schütze Tell erbleichte und sagte: "Herr, es kann nicht Euer Ernst sein, solch Unmenschliches von mir zu verlangen. Wie sollte ich von meines Kindes Haupt einen Apfel schießen können? Erlaßt mir den Schuß, Herr, lieber will ich gleich sterben." Und er riß sein Wams auf und bot die Brust den Waffenknechten hin, daß sie ihn erstechen möchten.
Doch der harte Landvogt Geßler sprach: "Entweder tust du den Schuß, oder du und dein Kind, ihr beide müßt zusammen sterben."
Als sich Wilhelm Tell nun nach seinem Büblein umschaute, sah er, daß es die rohen Waffenknechte schon an einen Baum gebunden hatten. Auf seinem flachshaarigen Scheitel aber lag ein Apfel. "Schieß nur, Vater", rief der kleine Walter, "ich fürchte mich nicht!"
Da sank der bäumige Gemsjäger in die Knie vor Jammer und blickte mit stummem Entsetzen zum Landvogt auf. Doch der schaute ihn mit bösen, schadenfreudigen Augen an.
Jetzt packte Tell die Armbrust, nahm zwei Pfeile heraus und steckte einen in das Göller. Aber Walter Fürst, der Großvater des kleinen Walter, trat jetzt zum Landvogt und beschwor ihn bei seinem Seelenheil, von seinem schrecklichen Verlangen abzustehen. Er kniete sogar vor ihm nieder und hob flehend die Hände zu dem Tyrannen auf, der ihn aber kalt und höhnisch ansah.
Auf einmal schrie eine Weiberstimme aus dem Volk: "Der Apfel ist gefallen, der Apfel ist gefallen!" Und hundertstimmig jubelte das Volk: "Der Apfel ist gefallen!"
Während der Landvogt auf den alten Landammann Walter Fürst hörte, hatte Wilhelm Tell rasch die schwere Armbrust gespannt, den Pfeil daraufgelegt, gezielt und geschossen. Da flog der Pfeil, und der Apfel war gefallen.
Aufjauchzend stürmte der kleine Walter auf seinen Vater zu, der noch fassungslos und wie im Traum am Boden kniete und die Armbrust krampfhaft in den Händen hielt. Ein Knecht aber hatte den Apfel aufgehoben und zeigte ihn nun dem Landvogt Geßler. "Wahrhaftig", sagte der, "der Apfel ist mitten durchgeschossen; es war ein Meisterschuß, ich muß ihn loben."
Aber als der Tell, der langaufatmend und bebend vor Freude sein Kind ans Herz geschlossen hatte, sich erhob und mit dem jubelnden Volk abziehen wollte, fragte ihn plötzlich der Landvogt: "Höre, Tell, sag an, warum stecktest du den zweiten Pfeil in das Göller, bevor du den Schuß tatest?"
"Herr, es ist so des Schützen Brauch", sagte dieser, der den Vogt und sein böses Herz durchschaute. Aber der Landvogt runzelte die Stirne und sagte: "Tell, bekenne nur die Wahrheit ohne Furcht, du sollst deines Lebens sicher sein. Warum stecktest du den zweiten Pfeil in das Göller?"
Jetzt stellte sich der Tell bolzengerade vor den Landvogt hin, sah ihn furchtbar an und rief, ihm den Pfeil entgegenstreckend: "Wohlan, Herr, da Ihr mir mein Leben zugesichert habt, will ich Euch die Wahrheit sagen: Hätte ich mit dem ersten Pfeil meines lieben Kindes Haupt getroffen, mit dem zweiten hätte ich Euer wahrlich nicht gefehlt!"
Der Landvogt erschrak innerlich sehr, denn nun erkannte er, wie ihn der Tell haßte, den er so schrecklich gequält hatte. Aber er ließ sich nichts merken und sagte kalt: "Das Leben habe ich dir zugesichert, Tell, ich will es redlich halten. Aber da ich deinen bösen Willen gegen mich erkannt habe, will ich dich dahin führen lassen, wo weder Sonne noch Mond dich bescheinen, auf daß ich vor dir Ruhe habe. Ergreift ihn!"
Sogleich packten die Waffenknechte den Schützen Tell und banden ihm unter den Verwünschungen und unter dem Aufjammern des umstehenden Volkes die Hände auf den Rücken. Dann rissen sie ihn von seinem Büblein los und schleppten ihn ins Herrenschiff nach Flüelen, um ihn über den Waldstättersee ins finstere Burgverlies nach Küßnacht zu bringen. Geßler selbst bestieg mit seinem Gefolge den Herrennauen.
Bald stieß des Landvogts Schiff ab, und noch lange schaute das entrüstete Volk nach seinem roten Dache. Im Nauen aber lag der Schütze Tell inmitten der Waffenknechte, und umsonst schaute er mit sehnsüchtigen Augen, wie die heimatlichen Gestade allmählich verschwanden, und umsonst blickte er sich nach der hinten im Schiff liegenden Armbrust um. Niemals mehr sollte er das Licht der Firnen sehen, niemals mehr das Schwirren seines sicheren Pfeiles im Bergwalde hören.
Als sie aber ein gutes Stück über den See gefahren, sah man auf einmal das ewig lebendige Schneestaubwölkchen, das am Firnenhaupt der Großen Windgälle hängt, stärker aufstieben. Auch kam ein unheimliches Summen und Knurren, wie das Murren des Volkes an der Maienlandsgemeinde, von den Firsten und Graten der Berge. Der Himmel ward tiefblau, als wollte er sich auftun, und die Bergwälder schienen nahe, als könnte man sie mit den Händen greifen. Und jetzt kräuselte sich der See; ein paar heftige Windstöße pfiffen um die Bergwände, und plötzlich tobte der Alpenwind, der wilde Föhn, von den Bergen herab und fuhr schnaubend, jauchzend und pfeifend daher, den See also aufpeitschend und aufjagend, daß die gehetzten Wellen wie wilde, wutschnaubende Tiere auf das Herrenschiff lossprangen.
Da erschraken der Landvogt Geßler und seine Leute. Nirgends war eine Fähre, denn überall starrten sie die jähen Felsen an, und die Ruderknechte hatten eine harte Arbeit, das Schiff von den Bergwänden abzuhalten, an denen die Wogen donnernd aufsprangen und zerschellten. Und auf einmal packte der Sturmwind den tanzenden Nauen und zwang ihn durch den kochenden See gegen die vorspringenden Riffe des Axenberges.
Jetzt glaubten alle im Schiff ihr Sterbestündlein nahe. Sie hörten schon das Sterbeglöcklein auf dem Seelisberg läuten, das nur erschallte, wenn ein Schiff dem Untergang verfallen schien. In dieser höchsten Not baten die Waffenknechte den Landvogt, er möchte doch den Tell ans Steuerruder lassen, da er ein so starker Mann und im Rudern gar wohl bewandert sei. Der Landvogt, den die Todesangst übernommen hatte, erlaubte es mit stummem Nicken. Rasch band man den Schützen los, und da stand er schon am Steuerruder. Mit riesenstarker Faust zwang er das schwere, auf und ab springende Schiff um den Axenberg und brachte es so aus dem gefährlichsten Wogengang. Langsam, aber sicher lenkte er den immer noch wie ein gepeitschtes Roß steigenden Nauen der Felsplatte zu, die am Axen aus einem schmalen Gelände vorspringt.
Als er mit dem Schiff daran fast anstieß, packte er plötzlich seine Armbrust und sprang auf die Felsplatte, das Schiff im Abspringen mit einem gewaltigen Fußtritt in die zischende Flut zurückstoßend. Dann verschwand er im Bergwald. - Lange Zeit wurde das Herrenschiff noch im empörten See herumgetrieben, und oft genug war es nahe am Versinken. Nur mit unsäglicher Mühe und Not brachten es die Ruderknechte bei Brunnen zum Landen, von wo aus dann Geßler nach seiner Burg Küßnacht reiten wollte.
Tell aber eilte über Sisikon und die Alpenweiden bei Morschach nach Arth und von dort gegen Küßnacht.
Gegen Abend ritt der Landvogt Geßler racheschnaubend von Immensee her gegen seine Burg zu Küßnacht. Als er mit seinen Leuten durch die Hohle Gasse kam, die von hohem Gebüsch und gewaltigen Eichen überwölbt und beschattet war, warf sich ein armes Weib namens Armgard mit ihren Kindern vor sein Pferd und schrie, sie gehe nicht von der Stelle, bis der Landvogt ihren gefangenen Mann aus dem finsteren Burgverlies hinauslasse. Aber der herzlose Vogt ergrimmte und machte Miene, über das arme Weib und ihre Kinder hinwegzureiten.
Da schwirrte auf einmal ein Pfeil aus dem Busch und fuhr dem Landvogt mitten ins Herz. Schreckensbleich zuckte er zusammen, sank zurück und schrie auf: "Das ist Tells Geschoß!" Da zeigte sich der Schütze Tell auf einen Augenblick und rief: "Du kennst den Schützen, suche keinen andern!" Dann verschwand er im Gehölz. Der Landvogt Geßler aber starb in den Armen des Bettlerweibes, das ihn umsonst angefleht hatte.
Das ist die Geschichte des berühmten Schützen Tell, und heute noch kann man sie abgemalt sehen in der offenen Kapelle auf der Tellsplatte, die der grüne Bergsee umbrandet.
Quelle: Meinrad Lienert, Schweizer Sagen und Heldengeschichten, Stuttgart 1915
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.