Kurios ging's schon lange in einer gewissen Alp zu. Wenn der Senn anfing zu erwellen, kam ein Unsichtbarer in die Hütte, half ihm anfeuern, Milch in das Chessi schütten, scheiden, den Käs herausheben, zigern. Dabei war er aber dem Senn auch oft im Wege, und es kam manches recht ungeschickt heraus, und dann fluchte dieser alle Wetterzeichen und verwünschte jenen zu unterst auf die Höllenplatte. So aber erhielt der Unsichtbare Gewalt über den Senn und tötete ihn. Auf diese Weise war schon mancher verschwunden, und der Bauer bekam nach und nach keine Alpknechte mehr.
Da kam wieder einmal ein frischer Meisterknecht auf die Alp, ein gesitteter, vernünftiger Mann, der nicht fluchte, sondern seine Gedanken und sein Herz öfters auf Gott und die Ewigkeit richtete. Über ihn hatte der Alpgeist keine Gewalt, und zu seines Meisters und aller Leute grösstem Befremden hielt er den ganzen Sommer stand.
Am Schlusse der Alpzeit redete er den Geist an und erhielt von ihm, der jetzt sichtbar wurde, die Auskunft, er solle zu Hause das Porträt in seiner Schlafkammer recht anschauen und den Bauer fragen, wen es vorstelle. Wirklich fand er das Porträt vor, betrachtete es und sah sofort, dass es die unverkennbaren Züge seines geheimnisvollen Alpgehilfen trug. Der Bauer belehrte ihn, es stelle seinen eigenen Bruder vor; und nun erzählte ihm der Senn alles, und auf des Bauers bestimmten Befehl redete er im folgenden Sommer den Alpgeist zum zweiten Mal an. Dieser legte darauf das Bekenntnis ab: »Ich habe die Marchen meines Eigentums, das jetzt deinem Herrn, meinem Bruder, gehört, auf Allmend und fremdes Eigen hinausgerückt. Sobald sie mein Bruder wieder auf ihren gehörigen Standort zurückstellt, werde ich erlöst sein.« Das tat der Besitzer gewissenhaft, und der Alpgeist erschien nie mehr. Die Alp hatte Ruhe.
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.