1. St. Niklausen (Samiklausen) im Geschenertal ist das älteste Gotteshaus im Kanton Uri, behauptet hartnäckig die Sage im obern Reusstal. Hier, wo zuerst in der Gegend das Christentum wurzelte, sollen mit einem Priester Waldbrüder gehaust haben. Nun, zu St. Niklausen liegt, wie das Volk behauptet, ein heiliger Leib begraben. Es soll noch nicht viel über hundert Jahre sein, dass eines Morgens früh ein braver Hirtenknabe das Gotteshaus betrat. Ein Priester kam und forderte ihn zum Messdienen auf. Der Knabe tat es mit Freuden. Nach der Messe lud ihn der Geistliche ein, alle Morgen sich zum Messdienen einzufinden, verbot ihm jedoch aufs strengste, jemanden etwas davon zu sagen, worauf er verschwand. Der Hirtenknabe hielt Wort und war auch sehr verschwiegen. So bediente er längere Zeit den Priestergeist bei dem heiligen Opfer. Endlich fiel es der Mutter auf, dass ihr Sohn immer zur bestimmten Zeit sich fortbegab und im Zögerungsfalle sehr pressierlich tat. Sie ahnte ein Geheimnis und drang in ihn, aber lange umsonst. Mutterzärtlichkeit löste indessen doch die Zunge. Nun hiess sie den Knaben selber wieder hingehen und messdienen; allein, wie er in die Kapelle kam, war alles schon vorüber, der Priester war verschwunden, die Lichter waren ausgelöscht. Er versuchte es wieder und ging des andern Tages früher hin und noch früher, allein immer, wenn er kam, war die Messe vorbei; er sah allemal nur noch die rauchenden Kerzen als Beweis des Geschehenen. Der Hirtenknabe, nachdem er geplaudert, war nicht mehr fähig, dem Geiste zur Messe zu dienen.
2. In St. Niklausen lebte vor Zeiten ein Einsiedler, der jeden Tag in der Kapelle die heilige Messe las. Ein Ziegenhirt von Abfrutt war sein Ministrant. Der Einsiedler wollte unbekannt bleiben und gebot dem Knaben strengstes Schweigen. Als Lohn wollte er ihm eine Stelle zeigen, wo ein reicher Schatz verborgen liege. Dass der Hirtenknabe immer so früh und auf die Minute mit seiner Herde ausfuhr, fiel den Leuten bald auf; früher war er nichts weniger als prompt gewesen, und die Mutter hatte oft ein Kreuz gehabt, ihn morgens zu wecken. Mit aller List hat man versucht, auf das Geheimnis zu kommen. Der Knabe ist schliesslich schwach geworden und hat das Geheimnis seiner Mutter anvertraut, und die sagte es allen Leuten. Des andern Morgens machte sich alles nach St. Niklausen auf, um der hl. Messe beizuwohnen und mehr noch, um den geheimnisvollen Einsiedler zu sehen. Wie man aber in die Kapelle kam, waren auf dem Altare die Kerzen ausgelöscht, der Docht rauchte noch, aber den Einsiedler sah man nicht. Auch der Hirtenknabe hat ihn nie wieder gesehen, und die Mutter hatte von nun an das alte Kreuz, am Morgen den Knaben zu wecken.
3. In Wiggen lebte eine zahlreiche Familie. Der jüngste Knabe war ein Ziegenhirt. Mit seiner Schar, die er jeden Morgen in den Lochstafel hinauf trieb, kam er auch an der St. Niklausenkapelle vorbei; da war ein Priester, ein Mönch, und bat ihn zum Messedienen, was der Knabe willig tat. Der Priester befahl ihm, nun jeden Morgen zur bestimmten Stunde sich zum Messedienen einzufinden, aber er dürfe daheim nie etwas sagen oder merken lassen. Lange Zeit tat er das. Eines Tages hätte er sich bald verschlafen; schnell sprang er auf vom Bette und forderte energisch das Frühstück. Diese Eile fiel den Eltern auf, und sie befragten ihn. Aber er wich aus. Als man aber mit dem Essen keine Eile zeigte, da forderte er immer lauter, denn er müsse gehen, sonst werde der Pater schon angefangen haben. Nun ahnten die Eltern etwas, liessen es aber nicht merken. Der Knabe bemerkte jetzt, dass er sein Geheimnis verraten, und ging eilends zur Kapelle hinauf. Aber der Priester war fort; es rauchten nur noch die Kerzen, zum Zeichen, dass die Messe eben beendigt sei. Seitdem könne nun dieser Priester nicht mehr Messe lesen; sein Leib ruhe da unweit der Kapelle unter dem Stein, wo heute eine köstliche, kristallhelle Quelle hervorsprudelt, die auch im grössten Winter nie zugefriert. Wenn nun in Wiggen wieder eine Familie Regli Eigentümerin dieses Landgutes wird, wenn sie sechs Söhne und keine Töchter dazwischen hat, so wird der Priester sich wieder dem jüngsten zeigen und von da an wieder seine Messe lesen.
Schriftl. v.R.D. Kapl. Gisler, Gescheneralp; mündl. v. Heinrich Gamma, Gescheneralp
Statt der Gebeine des Waldbruders verstehen einige unter dem »heiligen Leib« eine heilige konsekrierte Hostie. Ein Erzähler nannte statt des heiligen Leibes einen Schatz, den aber bekomme nicht jeder. Wer ihn haben wolle, der miëss denn ämal afigs, mein-i, ganz Hosä-n-a'ha' und miëss midärä silbrigä Schüflä-n- und mid-ämä silbrigä Bickel grabä.
Nach anderer Fassung waren die Leute zu Abfrutt, wo der Ziegenhirt daheim war, und in der Umgegend noch Heiden. Doch stimmt sie mit Spielart 2 überein. Der hl. Leib des Einsiedlers soll irgendwo im St. Niklausenwalde begraben sein.
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.