Kraft des Betrufs

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

1. Auf der Nidwaldner Alp Niederbawen riefen sie aus Faulheit, oder weiss Gott warum, einige Abende nacheinander nicht zu beten. Damals hatten sie noch Pferde auf der Alp. Nun hörten sie eines Abends die Pferde wie rasend herumpoltern. Der Boden zitterte förmlich unter ihren Füssen. Als die Älpler vor die Hütte hinausrannten, sahen sie, dass der ganze Trupp wie durch die Lüfte der Kulm zu sprengte. Jetzt griff der Senn zur Folla 1 und rief zu beten. Die Tiere beruhigten sich allmählich und kehrten zurück. Seitdem haben sie da oben den Betruf nie mehr unterlassen.

»Das mag eppä vor 50 Jahrä g'sy sy, ich mag mi nu b'sinnä,« meint meine Erzählerin.

Marie Ziegler

2. a) Noch zu Menschengedenken alpete zu Scharti und Oberberg eine Familie von Bauen. Eines Abends gingen die zwei Buben nach Bauen hinunter z'Stubeten und liessen das Vieh allein im Oberberg. Man fragte sie, wer ihnen das Vieh besorge, und lachend gaben sie zur Antwort: »E, 'Kiëh hem-mer am Santä Toni ibergä, und der Stiër cha sälber lüegä.« Als sie am Morgen auf Oberberg ankamen, konnten sie den Stier nirgends finden, während das übrige Vieh wohl behalten um die Hütte herumstand. Im Laufe des Tages fanden sie den Stier auf der andern Seite des Berges tot zu unterst im Gygenstäfeli.

b) Nach anderer Darstellung schloss der Senn am Samstagabend beim Betruf den bösen Alpstier vom Segen aus, indem er rief: »B'hiët Gott Alles uff diser Alp, ohni d'r Stiër nit!« »Der sell sälber lüegä,« meinte er. Als die Älpler am folgenden Tage aus der Kirche kamen, fanden sie den Stier tot unten in dem »Butzen« genannten Teil der Alp.

Mich. Imhof; Jos. Maria Aschwanden; Marie Ziegler

c) Statt des Stieres wird bei der Erzählart 2a auch ein rotes Chüehli genannt, ohne nähere Angabe der Alp.

Josefa Imhof-Aschwanden, 85 J. alt.

d) Alp in Uri. Eine weisse Kuh war nicht gut zu melken. Betruf: »B'hiët Gott Alles ohni äs Häutt (Haupt) nitt.« Der Senn dachte die weisse Kuh. Diese fand man am folgenden Morgen geschunden vor der Hüttentüre und in der Türe zwei blutige Messer eingesteckt.

Heinrich Walker, Reusstal

Fußnoten
1 Der Betruf wurde durch den Milchtrichter über die Alp ausgerufen.

Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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