1. In seiner Naturgeschichte des Schweizerlandes Band II S. 83 f. (Zürich 1746) erzählt der Gelehrte Johann Jakob Scheuchzer die folgende Sage, die er im August 1705 auf seiner vierten Bergreise vernommen.
In den Klarider Alpen erzählen die Anwohner eine seltsame Geschichte, welche der geehrte Leser nach seinem Gefallen unter die wahrhaften Begegnissen oder in den Rodel der Mährlein einschreiben kann. Es soll daselbst vor Zeiten ein Senn eine leichtfertige Hur unterhalten und in so hohen Ehren gehalten haben, dass er ihr von der Wohn- oder Sennhütte bis zum Käsgaden den sonst kotichten, unflätigen Weg mit Käsen bespreitet, damit sie ihre Schuhe oder Füsse nicht besudelte. Auf eine Zeit sei seine arme Mutter zu ihm gekommen, um ihren hungrigen Bauch mit Milch und Suffy zu füllen, der gottlose Sohn aber habe ihr Pferdeharn unter die Milchspeisen gemischt und mit so schlimmem Traktament wiederum abgefertigt. Worauf dieses arme Weib ihrem verschwenderischen und verruchten Sohn alles Unglück über den Hals gewünscht und Gott gebeten, an ihm seine gerechte Rachhand zu zeigen, welches auch geschehen, also dass die Erde ihren Mund aufgetan und diesen unnützen Erdenlast mit seiner leichtfertigen Dirne verschlungen, zugleich aber auch seien die obern Firn und Felsen eingefallen und die vorher grasreichen, fetten Alpen damit überleget, dass sie nun seit der Zeit ganz unfruchtbar seien und nichts tragen.
Ob nun diese Geschichte sich in der Tat zugetragen habe oder dieselbe von der frommen Klerisei ersonnen worden, um das gemeine Volk, absonderlich die Sennen, von dem Laster der Hurerei und des Ungehorsams gegen den Eltern abzuhalten, will ich nicht erörtern. Einmal die Anwohner sind von der Wahrheit dieses Exempels so versichert, dass einer nicht wohl würde ankommen, der sie in Zweifel ziehen würde.
Man gibt auch vor, dass dieser Böswicht, wenn man ihn rufe oder herausfordere, sich merken lasse. Und erzählet uns selbst ein gelehrter und ehrwürdiger Priester, Karl Joseph Arnold, Pfarrer in Unterschächen, dass er auf eine Zeit in seinen jungen Jahren sich in diese Klarider Alpen verfüget und an dem Ort, wo die Sennhütte gestanden, den mit Leib und Seel verschlungenen Senn kühnerweise aufgefordert, worauf die Erde in eine Erschütterung geraten und die Felsensteine von der Höhe mit grossem Geräusche und zu seinem grossen Schrecken heruntergefallen, dass er sich mit der Flucht salviert und Gott gedanket, dass er mit dem Leben davongekommen.
2. a) Die Klaridenalp gehörte einem reichen Bauer. Der hatte ein Söhnchen bekommen von seiner Frau, nachdem die Ehe lange Zeit unfruchtbar gewesen, und dieses Büblein zog er aus blinder Liebe in Übermut und Überfluss auf, und die Mutter war um kein Haar vernünftiger als der Mann. Denkt euch! nicht etwa in der Schotten, sondern in der puren ganzen Milch badeten und wuschen sie den Dreckbub! Dieser Bub wuchs heran, und gar bald kosteten die blinden Eltern die Früchte ihrer Erziehung. Kummer und Gram brachten den Vater frühzeitig ins Grab, die Mutter aber sollte das Kreuz noch länger tragen.
Zach. Imholz
(Diese Einleitung von einem einzigen, dem unterschriebenen Erzähler.)
b) Der Sohn tat eine Magd zu, Kathry mit Namen, und mit dieser konnte er's gut, gab ihr das Beste zu essen und zu trinken; ihr zuliebe legte er von der Sennhütte zum Käsgaden einen Weg aus Käs und Anken an; nicht so, lange nicht so hielt er seine betagte Mutter, die im Sommer auch bei ihnen auf der Alp lebte. Sie musste sich mit saurer Süffi begnügen, und aus dieser nahm der Unmensch noch den Zieger heraus und tat statt dessen Rossbollen hinein. Seinen Hund Parysi hielt er besser als die arme Mutter. Im Übermut taufte er seine schöne Trychelkuh im Bache und gab ihr den Namen Brändi. Da die Mutter merkte, dass sie den beiden Verliebten im Wege sei, verliess sie unter Verwünschungen die Alp. Da fing es über Nacht an zu schneien, und es schneite und schneite wie eine Lawine und schneite die Alp mit Senn und allem ein nnd hörte nicht auf, bis die Alp hoch mit Schnee und Eis bedeckt war.
c) Alle Karfreitage unter der Passion hört man von Klariden her eine Stimme rufen:
Ich und Hüer Kathry und Trychelchüeh Brändi und Hund Parysi Miänt immer und ewig i Klarydä sy.
Zacharias Imholz
Oder:
Ich und my liäbi Kathry miänt ewig i Klarydä sy.
Karl Gisler
Oder:
Ich Sänn Hans, Chüeh Brändi, Hund Parysi und Hüer Kathry Miänt ewig i Klarydä sy.
Ambros Gisler
Oder:
Sänn Mathys, Hund Parys, Trychelchüeh Brändi und Hüer Kathry Miänt immer und ewig i Klarydä verbannt sy.
Fr. Wälti-Gisler
Quelle: Müller, Josef: Sagen aus Uri 1-3. Bd. 1-2 ed. Hanns Bächtold-Stäubli; Bd. 3 ed. Robert Wildhaber. Basel: G. Krebs, 1926, 1929, 1945
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.