Das Dorf Issert ist seinerzeit einem grässlichen Unglück entgangen. Oberhalb des Dorfes zieht sich gegen die Dranse hinunter ein Bachbett, dessen Wasser zu regnerischen Zeiten gewaltig anschwoll, enorme Massen Schlamm mitriss, grosse Blöcke fortrollte, über die Ufer trat und die Hütten bedrohte, die in der Nähe standen. Die darob in Schrecken gejagten Uferbewohner rissen ihre Hütten nieder und bauten sie anderswo auf, wo sie von dem gefährlichen Gesellen nichts mehr zu fürchten hatten. Einst, als der Wildbach während eines Gewitters furchtbar toste, schäumte und grosse Wellen warf, kletterten ein paar junge Leute den Hang hinauf bis in die Nähe seiner Quelle. Bald darauf sah man sie in solcher Eile den Abhang hinunterstürmen, dass man glaubte, alle Teufel jagten hinten drein. Blass, zitternd und atemlos langten sie im Dorfe an. Da musste etwas Übernatürliches vorgefallen sein, und das war auch so.
Die Flüchtlinge erzählten, dass sie weit oben, nahe bei der Quelle des Flusses, zu einem grossen Felsblock gekommen seien, von dem ein schrecklicher Lärm ausgegangen sei. Da hätten sie Stimmen vernommen, die wild durcheinander schrien und doch niemand gesehen. Nach ihrer Meinung arbeiteten dort schlimme Geister oder Seelen aus dem Fegefeuer daran, das Felsstück in Bewegung zu setzen und den Hang hinunterzurollen, damit es mit aller Wucht in das Dorf Issert hineinfahre und alles zerschmettere.
Die armen Bewohner von Issert gerieten in grosse Aufregung. Was sollten sie tun zur Besänftigung der bösen Geister, die ihren Untergang herbeiführen wollten! Nach langem Hin- und Herraten entschied man sich, während neun Tagen zu fasten; man versammelte sich jeden Tag zweimal auf dem Dorfplatze und betete laut, liess Messen lesen für die Verstorbenen, machte feierliche Prozessionen mit Kreuz und Fahne, und endlich glaubte man der Gefahr glücklich entronnen zu sein. Der Regen hatte aufgehört, die Wasser des Wildbaches sanken, und nur ein kleiner dünner Silberfaden rauschte ganz leise im aufgewühlten Bette. Da bekamen die Dörfler ihre Ruhe wieder.
Doch bald fing es wiederum an zu regnen, und der Regen hielt während vielen Tagen und Nächten ununterbrochen an. Im Bachbett begann es zu murren, zu stöhnen, zu tosen und zu wühlen. Die Wasser des zum Fluss gewordenen Wildbaches stürzten in wildem Schwalle nieder, wirbelten Schaumwolken auf, rissen Steine und Erde mit, sprengten Felsstücke los, entwurzelten Tannen und vernichteten alles, was im Wege stand. Das Brausen verstärkte sich zum Höllenlärm, und weithin tönte der Donnerhall der grollenden Wasser.
Jetzt wagte es niemand, hinauf zu gehen zu dem einsamen Felsblock und zu horchen. Die Ortsvorsteher wurden beauftragt, in das benachbarte Orsières hinunterzusteigen und den Pfarrer zu holen, damit er den Berg segne und die gefährlichen Bewohner verbanne. Der Pfarrer sagte, die Sache sei zu gefährlich, als dass er sich da hineinmischen möchte und nannte ihnen einen Kapuziner, der bekannt war als Hexen- und Teufelsbeschwörer. Der Kapuziner war bereit, das schwierige Werk an die Hand zu nehmen. Er stieg mit ihnen nach Issert hinauf, wo der Bergbach unterdessen so hoch gestiegen war, dass die Bevölkerung in hellem Schrecken, nur mit dem Allernotwendigsten bepackt, das Dorf verliess und es vorzog, am andern Ufer der Dranse im freien Felde zu leben, wo sie vor weiteren Gefahren gesichert, die Verwüstungen des Bergwassers vor Augen hatten. Der Kapuziner sprach ihnen Mut zu und riet, ihm in einer Prozession zu folgen. Er schwang das Rauchfass, stieg langsam die Berglehne hinan und schlug den Weg ein zu dem Teufelsblock. Hinter ihm folgte ein langer Zug weissgekleideter und eifrig betender Männer und Frauen, Kinder und Greise. Beim Block angekommen, redete der Mönch in lateinischer Sprache zu den Geistern und streute rings um den Fels einige Hände voll geweihten Staubes, den er aus trockenen Pflanzen hergestellt hatte. Die Worte verhallten im Brausen des Baches. Aus dem Bette tönte Gemurmel, unterbrochen von wildem Geschrei, aus dem niemand klug werden konnte. Als der Kapuziner den gesegneten Pflanzenstaub ausgestreut und die Taschen geleert hatte, verstummte nach und nach das Gemurmel im Bache, und zuletzt war nicht das leiseste Flüstern mehr vernehmbar. Die bösen Geister hatten offenbar die Teufelsarbeit eingestellt.
Während kein einziger der Anwesenden nur das geringste bemerken konnte, erklärte der Kapuziner, dass er die Geister alle sehe und dass er sie ihnen auch sichtbar machen könnte. Sie brauchten sich nur hinter ihn zu stellen, mit ihren Füssen seine Sandalen zu berühren und ihm über die Achseln zu gucken, dann würden sie genau dasselbe sehen wie er; doch riet er ihnen davon ab, denn der eine würde unter den Geistern die Seele seines Vaters oder seiner Mutter, der andere die eines seiner Geschwister oder eines Freundes erblicken. Als alle noch starr in das Flussbett hinunterschauten, liessen sich die Geisterstimmen wieder hören und diesmal so, dass alle sie verstehen konnten.
«Stemme, Nikolas, und schieb», rief eine Stimme.
«Wie soll ich schieben», antwortete eine andere Stimme, «der ganze Fels ist mit Gesegnetem bestreut!» «Das Dorf Issert verdient eine Züchtigung», fuhr die erste Stimme fort, «denn die Leute führen sich schlecht auf. Heute ist doch Sonntag, und da hat man in drei Familien Brot gebacken, und in andern drei Familien haben sie Wäsche gehalten!»
«Das ist schon wahr», sagte die andere Stimme wieder, «doch haben die Dörfler zu ihrem Schutze drei Stumme, die sind die Unschuld selber! Wehe dem Dorfe, wenn es einmal weniger als drei Stumme haben sollte!»
Die Leute, die das alles hörten, versprachen dem Kapuziner in tiefer Inbrunst, den Sonntag fürderhin zu heiligen, dann stiegen sie in Prozession wieder ins Dorf hinunter. Von nun an hörten die schrecklichen Verwüstungen des Bergbaches auf. Das Flussbett blieb fast das ganze Jahr durch trocken. Immerhin hütete man sich, die Hütten an dem Ufer wieder aufzubauen.
Und sonderbar: Sobald einer der drei Stummen, die man als Schutzengel des Dorfes hoch in Ehren hielt, starb, wurde ein anderer geboren, so dass man bis in die jüngste Zeit hinein im Dorfe immer drei Stumme zählte, nicht einen weniger und nicht einen mehr, während in den Nachbardörfern die Stummen zur Seltenheit geworden sind.
Neulich ist wieder einer der drei Stummen gestorben, und die Leute von Issert glauben, es werde bald wieder einer geboren werden. Sie glauben es nicht nur, sie sind dessen ganz sicher; der dritte Stumme muss ersetzt werden, sonst wird der Wildbach wieder anschwellen, und die Geister werden Macht über ihn gewinnen und dann wehe dem Dorfe!
Quelle: Johannes Jegerlehner: Walliser Sagen, Hans Feuz Verlag Bern, 1959
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.