Es leben noch Mehrere, welche eine, im Weiler St. Antonio (Puschlav) wohnende, kleine und hässliche Frau kannten, die ihrer Absonderlichkeiten wegen für eine Hexe gehalten wurde. Schon ihre Mutter und Grossmutter hatten in gleichem üblem Rufe gestanden. Es war daher nicht zu verwundern, wenn man im Lande allerlei böse Geschichten ihr andichtete, oder von ihr erzählte, oder sogar von ihr bestimmt wusste.
So begegnete sie eines Tages einem Mädchen, berührte es mit der Hand, murmelte dabei einige Worte, die das Mädchen aber nicht verstand, und verschwand. Auf dies hin lief das Mädchen vom Berge (bei Selva) herunter, ins Tal, zum nächsten Brunnen, der nahe bei der Kirche von Prada sich befindet, und fing an, mit ungewöhnlicher Gier Wasser zu trinken. Einige Frauen, welche am Brunnen Wäsche hielten, hatten das Mädchen anfänglich wohl bemerkt, schenkten ihm aber weiter keine Aufmerksamkeit. Erst, als sie nach einiger Zeit wieder hinblickten, bemerkten sie, dass das Mädchen immer noch »am Brunnen hing«, und hastig Wasser trank. Mit Mühe konnten sie die Dürstende vom Brunnen entfernen, und behaupteten, das Mädchen hätte gewiss so lange Wasser getrunken, bis es zerplatzt wäre.
Über den Grund des ungewöhnlichen Durstes befragt, antwortete die Kleine, jene böse Frau sei Schuld daran, - und Jedermann glaubte es.
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.