Wo zwischen Splügen und Nuvenen der Berg-Stock Guggernüll am jungen Hinterrheine sich erhebt, wo oben in den schauerlichen Klüften der Geier horstet, oder der Rabe krächzt, nie aber eines Menschen Fuss hinauf sich wagt, - dort hausen jetzt die Geister vom alten Geschlechte der Stoffler.
Die haben »durband« (durchwegs) ein lasterhaftes Leben geführt, ihre Mitmenschen auf die schändlichste Art betrogen, und auf unrechtmässige Weise grosse irdische Reichtümer sich gesammelt. Alle Verstorbenen dieses Geschlechtes haben dafür aber keine selige Grabesruhe.
Nachts (zu gewissen Zeiten), wenn die Turmuhr zwölfe zählt, und der eherne Ton der Glocke die Geisterstunde verkündet, wenn das Sternenheer so freundlich blinkt, und der stille Mond seine gewohnte Bahn wandelt, wenn drunten auf dem Gottesacker Todesstille herrscht, - dann vernahm man im Gebüsche an den Ufern des Flusses ein sonderbares Rauschen. Die Büsche schienen in Flummen aufzugehen, - und - heraus trat ein grosser, illusterer Mann, mit langem, weissen Barte, und einen glühenden Knittel in der riesigen Faust haltend. Er schritt dann dem nahen Kirchhofe von Medels zu, schlug mit dem glühenden Knittel auf einige bestimmte Gräber, aus welchen dann heulend und zähneklappernd seine Vorfahren, Alle des Geschlechtes der Stoffler sich erhoben, und ihm zu Füssen sich legten.
Mit donnerähnlicher Stimme rief er Jedem seine Untaten ins Gedächtnis, hieb dann unbarmherzig auf sie los, bis dann, wie auf einen Schlag, Alle auseinandersausten, und in das Haus flüchteten, das sie einst bewohnt. Dort rissen sie Türen und Tröge auf, durchwühlten in unsäglicher Gier und Hast die umherliegenden Schriften, und heulten erschrecklich dabei; so dass die Bewohner aus ihrem gerechten Schlafe aufgeschreckt wurden, und nicht wissend, was das sei, nach der Stube eilten, wo der Spuck los war.
Dieser Rumor wiederholte sich zeitweise, dann und wann, weshalb die Nachkommen dieser Stoffler grosse Summen Geldes geben mussten, damit ein Geisterbanner den armen Seelen Ruhe verschaffe, oder wenigstens bewirke, dass sie nicht mehr in das Haus zu kommen vermöchten. Das geschah denn auch wirklich.
Wie die Unholde neuerdings in das Haus einbrachen, und ihren gewohnten Unfug trieben, trat diesmal der Banner unter die Türe. Und seinem Machtspruche Folge leistend, flüchteten sie kopfüber, heulend und schreiend, aus dem Hause, verliessen sogar die Gräber auf dem Gottesacker, und zogen hinauf ins Guggernüll-Gebirge, um nicht wieder zurückzukehren. Dort müssen sie umgehen, vom Fusse des Berges immerwährend grosse Steine den Berg hinaufschleppen, um droben eine Hütte zu bauen. - Man vernimmt oft ihre Jammertöne, besonders in hellen Nächten des Monates August. Wenn dann des Himmels Blau sich verfinstert, und schwarze schwere Wolken einen furchtbaren Sturm verkünden, wenn darauf die ersten schweren Tropfen fallen, - dann brechen die Stoffler auf Guggernüll ihr Häuslein ab, rollen die Steine bergab, und schreien in unsäglicher Schadenfreude ins TaI hinab: »Nu, nu wird's schö Wetter, - nu, nu wird's schö Wetter.« Dann aber kommen sie von Guggernüll herab, Allsammt, und müssen von Neuem die gleichen Steine bergauf schleppen, die nämliche Hütte abermals aufbauen, und beim nächsten Gewitter wieder sich künden, - und so fort, bis dass die Steine, durch das abwechselnde Hinunterrollen und Hinaufwälzen, kugelrund geworden sind. - Dann erst sind die Stoffler erlöst.
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.