In der Nähe des grösseren Curer-Alp-Sees stehen mehrere »gestrickte« (aus glatt behauenen Balken oder Stämmen gefügte) Wohnhäuser und Ställe. An der Stelle eines dieser Häuser war vordem ein Anderes, in welchem es aber »nicht richtig« war.
Dieses Häuslein soll viele »Ehni-Alter« dort gestanden haben (vielen Generationen als Wohnstätte gedient haben), und niemals ein »Ung'fäll« in Demselben gewesen sein, und das verdankten die jeweiligen Bewohner einzig dem »roten Fräuli«. Das rote Fräuli war nämlich der Hausgeist, eine kleine, weibliche Gestalt in stets scharlachrotem Rocke und »Capatüsli« (sonderbar gestaltete Kopfbedeckung, mehr aber Kopfverzierung der Frauen im 17., 18. und 19. Jahrhundert). Das Fräulein kam nur bei besonderen Anlässen in die Stube, sonst hielt es beharrlich seinen Sitz bei der Kellerstege fest, und das auch nur von später Abendstunde an, die Nacht durch; am Morgen aber war das Fräulein nirgends mehr zu sehen und zu finden. Bei der Kellerstege hockte das Fräulein immer im gleichen Winkel, redete nie ein Sterbenswörtlein, und schaute immer gar wehmütig drein. Was nun das Fräulein sonst tat, und wovon sie ihr einförmiges Leben fristete, konnten selber die Hausbewohner nicht ergründen; aber das war gewiss, dass das Fräulein einen mächtigen Zauber in sich barg, der zu jeder Zeit alles Ungemach von Haus und Bewohnern ferne hielt.
Gab's aber Zeiten, wo ein kleiner Schreihals die Zahl der Hausbewohner vermehrte, rückte auch das Fräulein von der Kellerstege in die Stube, setzte sich neben die Wiege, auf einen Holzschemel, und hütete die ganze Nacht durch den kleinen Weltbürger; am Morgen war es aber nirgends mehr zu erspähen, kam aber am Abende zutraulich wieder, und so auf den Tag ein ganzes Jahr lang, unermüdlich. Und so lange das rote Fräuli das Kleine in der Wiege hütete und pflegte, kam nie eine Krankheit an Dasselbe, und es gedieh so schön, dass es zum Verwundern war. Das ging viele Jahre so.
Da kamen eines Abends drei Bursche ins Haus, ein Unwetter verhinderte sie am Weitergehen; sie baten um » Übernacht«, und der Hausvater hiess sie freundlich willkommen. Diese Burschen hatten auch das rot Fräuli gewahrt, und Einer von ihnen machte sich lustig über dessen roten Rock. Balde ging Alles zur Ruhe; einer der »Uebernächtler« legte sich rechts, der Zweite links neben den Ofen, auf die Bank; der Dritte, der das Fräuli ausgelacht hatte, machte sich auf den Ofen, und nahm seinen »Schnetz« aus der Tasche, denn er empfand eine steigernde Unruhe, und fing an, vor dem Fräuli sich zu fürchten. Als nun das Licht gelöscht ward, ging es gar nicht lange, so stiess Der auf dem Ofen einen fürchterlichen Schrei aus, fiel herab, und hinter den Ofen. Die zwei Andern wollten schnell Licht machen, aber, wie sie auch suchten, war das Standlicht nirgends zu finden.
Sie mussten nun im Dunkeln suchen, und fanden den Kameraden wirklich hinter dem Ofen, schrecklich zusammengekrümmt, und schon halb erstickt. Mit grosser Mühe konnten sie ihn aus der lebensgefährlichen Lage wegkriegen, und auf die Ofenbank legen; er schien ihnen schwerer, als sonst zwei, drei Menschen zusammen. Bis Tagesanbruch regte er sich nicht, und lag starr und steif; erst dann begann er »sich zu weiggen« (sich zu bewegen) und wieder zu sich zu kommen. Aber sein Haar war während dieser Paar Stunden schneeweiss geworden, und er noch an allen Gliedern zitternd, stammelte: wie, nachdem das Licht ausgelöscht gewesen sei, auf einmal eine unbegreifliche Macht ihm den »Schnetz« aus der Hand gerissen, und ihm eine solche »Dusla« gegeben habe, dass er hoch aufgefahren, dann aber hinter den Ofen gefallen sei; weiter wisse er nichts. Am Morgen war, wie gewohnt, das Fräuli nirgends, und das gesuchte Licht hing an einem roten Faden an der Stubendiele. Aber von der Zeit an verschwand das Fräuli zeitweise, blieb kürzere oder längere Zeit aus, und kam immer seltener.
Nach Langem kehrte ein Mädchen, eine arme Verwandte, im Hause ein, und weilte einige Tage. Auch sie sah das Fräuli, am ersten Abende sogar. In einer Nacht träumte ihr vom Fräuli, Dasselbe habe ihr gewinkt, mit in den Keller zu kommen. In der folgenden Nacht sah sie das Fräuli wieder, folgte ihr (im Traume), und bekam einen grossen Handkübel voll Gold und Silber zu sehen. In der dritten Nacht kam das Fräuli wirklich, erzählte ihr von dem Schatze im Keller, sie solle mit ihr kommen, den Schatz zu heben: Einen Drittel solle sie dann der Kirche, den zweiten den Armen geben, den dritten Drittel könne sie für sich behalten, doch dürfe sie, während sie den Schatz hebe, kein Wort reden, und nichts Böses denken. Das Mädchen folgte dem Fräuli in den Keller, wo unter dem »Tablatt« (Holzplatte, die auf einem aufrechtstehenden Pfeiler festgenagelt ist, und als Tisch zum Ablegen von Lebensmitteln dient) der Schatz lag, und nicht gar tief. – Auf die Weisung zu ziehen, fasst das Mädchen die »Hiene« (Handhabe) und zog; das Fräuli schaute zu. Wie nun aber der Handkübel so schwer von Gold und Silber war, und der Schatz grossen Wertes sein musste, dachte das Mädchen doch: »Ach wäre doch Alles mein« und seufzte. Und wie sie so dachte und seufzte, löste sich der Kübel von der »Hiene« ab, und versank in endlose Tiefe.
Mit dem Schatze war aber auch, für immer, das Fräuli im roten Rocke und »Capatüsli« verschwunden, und von der Zeit an gab's im Hause dann und wann ein »Ung'fäll.« - Das Fäuli kam nimmer.
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.