In St. Antönien hatte ein Knabe, der Andreas genannt, ein Mädchen lieb, und das hiess Röseli. War Andreas der geachtetste, schönste Bursche des ganzen Tales, galt auch Röseli für die Blume weit und breit. - Von Kindsbeinen an schon durch ihre Eltern miteinander bekannt, wuchs ihre gegenseitige Neigung zur Liebe, und sie schwuren sich Treue bis in den Tod.
Nun ist in St. Antönien noch Gebrauch und Sitte, dass das »Jung-Volk« jedes Jahr unter sich einen »Chilbi- Vorsteher« wählt, der im Namen der erwachsenen Jugend Zucht und Ehrbarkeit bewachen und handhaben soll, dem aber am »Chilbi-(Kirchweih) Sonntage« auch das Recht zusteht, ein »Chilbi-Maidli« zu wählen, das dann seine stete Tänzerin sein muss.
Während dem nun Andreas auf die Treue seines Röschens vertraute, hatte der eben gewählte »Chilbi- Vorsteher« Jakob, der längst schon dem Andreas den Besitz seiner Holden missgönnte, das Recht angesprochen, Röseli zum »Chilbi-Maidli« zu erhalten. Das Recht musste ihm zugestanden werden, so sehr Röschens Geliebter dagegen Einsprache erhob. Andreas, nun in der Meinung, sein Röschen habe eingewilligt, und sei ihm untreu geworden, schrieb ihr einen Scheide-Brief, und ging aus seinem elterlichen Hause weg, in\'s Gebirge hinauf. Kaum hatte Röseli das Zeichen seiner Trauer erhalten, so machte sie sich auf, ihren Andreas aufzusuchen, und ihrer Treue, die sie ihm bewahrte, ihn zu versichern; aber nirgends war er zu finden. - Endlich klimmt sie auch jenen Felshügel oberhalb dem Dorfe, wo sie zusammen so oft verweilt hatten, hinan, - und - findet auf einer grünen Matte den zerschellten Leichnam ihres heiss Geliebten. - -
Die Kirchenglocke ertönt! - Sie tönt so traurig, und ein grosses Geleite von Jugendgenossen und Talbewohnern erweisen dem armen Andreas die letzte Ehre. - Andreas wird am Fusse des Hügels, wo Röseli ihn tot gefunden, in sein kühles Bette »eingesungen «. Auf seinem Grabe kniete seine treue Geliebte, sein bleiches Röseli; sie kniete dort oft, und tränkte den Hügel mit ihren Tränen. Von ihren Händen gepflanzt, blüht auf seinem Grabe ein Rosenstrauch, in Mitte steht ein Kreuz, auf dem die Worte standen:
»Schwebe, schwebe, mein Geliebter,
Da Dein Geist die Hülle bricht,
Schwebe um mich, mein Geliebter,
Zürne Deinem Rösli nicht.«
»Rösli hat Dich stets geliebet;
Liebet Dich in Ewigkeit.
Und was diese Welt betrübet,
Sühnet künft'ge Seligkeit.«
»Was in dieser schnöden Welt
Bosheit hat geraubet mir,
Find' ich über'm Sternenzelt.«
» Rösli, Rösli ist bei Dir!«
Das arme Röseli wurde irrsinnig, wanderte bis an ihr Lebensende oft hinauf zum Grabe ihres treuen Andreas, und nahm immer Blumen mit, die sie auf sein Grab legte, dann pflückte sie ein Röschen vom Stocke, nahm es heim und weinte tagelang. -
Viele Jahre sind seitdem dahin, das Andenken an Andreas und Röseli erbte sich fort, aber die Stelle des Grabes ward mit der Zeit vergessen, bis ein Greis, der das unglückliche Paar noch gekannt, die Stelle wieder zeigte. Aber es hiess, der Jakob könne in seinem Grabe keine Ruhe finden, bis zum jüngsten Tage. Da riet nun ein altes Männlein, man solle das Kreuz, das auf Iakob\'s Grab stehe, herausnehmen, und in Andreas Grab versenken, so tief, dass man es nicht mehr sehe. Mit jedem Jahre werde dann das Kreuz von selber sich heben; sobald es ganz oben sei, und von selber umfalle, habe auch der Jakob Ruhe.
Das geschah, das Kreuz ward versenkt, hob sich, fiel um, und vermoderte, an der Stelle, wo es noch heute heisst »beim Kreuze«.
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.