In Campovasto wohnte das schönste Mädchen des Tales. Sie war die Tochter Adarns, eines hochbetagten Landmannes; auf sie hatte der bischöfliche Vogt auf dem benachbarten Schlosse Guardavall seine lüsternen Blicke geworfen. - Wenn der befahl, galt kein Widerspruch; wen er hasste, konnte er verderben, durch Zins oder Steuern, durch Richterspruch oder willkürliches Einkerkern. Schon mancher arme Zinsmann hatte seine Tochter oder seine junge Gattin als Magd aufs Schloss ihm zuführen müssen.
Obgleich Adam auf freiem Erbe seiner Tage sich erfreute, fand der Vogt es in seiner Willkür, ihn durch seine Knechte wissen zu lassen, dass er seine Tochter begehre, damit er sie zur Schlossfrau erhebe: »Auf Guardavall wolle er ihr dienen, wie einer Fürstin«. Adam vernahm mit Entsetzen solche Botschaft, aber schnell besonnen, liess er dem Vogte berichten, er müsse seine Tochter auf ihr bevorstehendes Glück vorbereiten, und werde sie selbsten aufs Schloss ihm zuführen. -
In der Frühe des Morgens schritt Adam, festlich gekleidet, gen Madulein, neben ihm, geschmückt wie eine Braut, die schöne Tochter, das zitternde Opfer, im Gefolge von Freunden, allesamt in Feierkleidern. So erstieg der Zug den Schlossberg. Der Burgvogt hatte die Kommenden schon von ferne erspäht, er eilte ihnen ungeduldig aus den Pforten des Schlosses entgegen; kaum erwiederte sein gewaltherrlicher Stolz den ehrerbietigen Gruss der Männer. Er trat zu der bebenden Jungfrau, die leichenblass am Arme des Vaters hing, umfasste sie und nahte mit den Lippen der keuschen Wange. Da glühte der Vater auf. Er zuckte den Dolch und bohrte ihn in die Brust des Tyrannen, dem weder Gesetz lieb war, noch des Menschen Recht heilig galt. Das war das Zeichen der Landeserlösung: Die Männer seines Gefolges schwangen das Schwert und stürzten durch die Tore in die Zwingburg hinein. Andere, die ringsum im Dickichte der Gebüsche verborgen lagerten, sprangen hervor; die Knechte und Söldner des Vogtes wurden erschlagen; die Flammen stiegen über den Zinnen von Guardavall auf. -
Seit jenem Tage ward das Land unterhalb der Innquellen vom Drucke der Zwingherrschaft frei.
Quelle: Volksthümliches aus Graubünden, D. Jecklin, vollständige Neuauflage, Berlin 2014
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.