Die Grindelwaldzwerge

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen
 

Vor vielen Jahren stand hinten am Mühlenbach bei Grindelwald das einsame Häuschen einer Frau, deren Mann beim Bergheuen ums Leben gekommen war.
Gar oft leuchtete bis spät abends ein schwaches Licht aus ihrem Dachstübchen, dann saß die gute Frau vor ihrem Webstuhl und webte. Eines Abends, wie sie wieder so fleißig am Werke war, hörte sie draußen vor der Haustüre ein Geräusch. Sie legte das Weberschiffchen in den Schoß und lauschte. War das eine Katze, eine Maus oder gar ein Mensch? Plötzlich, da klopfte es an die Haustüre. Der Frau kam das seltsam vor. Wer wollte zu solch später Stunde noch etwas von ihr? Sie blieb einen Augenblick still sitzen und beruhigte sich dann damit, dass es doch wohl nur der Gletscherwind gewesen sei, der an ihrem Häuschen gerüttelt habe. Da...tock...tock…tock… hub das Klopfen von vorne an. »Es will jemand zu mir,» murmelte sie. Eine leise Angst huschte über ihr Herz. Sie ergriff das brennende Öllicht und stieg damit von der Dachkammer hinunter in die Küche. Bevor sie den Riegel der Haustür zur Seite schob, rief sie: »Wer ist draußen?» Da ließ sich eine krächzende Stimme vernehmen: »Kommt uns helfen, liebe Frau! Ich bin ein Zwerg vom Wetterhorn!» Jetzt schob die Frau vorsichtig den Riegel zurück, und leuchtete mit dem Licht vor die Türschwelle. Richtig, da stand scheu und zusammengeduckt ein Bergmännchen und flehte: «Kommt mit mir hinüber zum Wetterhorn! Unsere Zwergenkönigin hat ein Kind geboren, und wir wissen uns nicht recht zu helfen.»
«Ja, ich komme!» antwortete die Weberin, denn sie war auch weit und breit im Tal als gute Kindsfrau bekannt. Geschwind tat sie in einen Korb ein paar Sachen und legte oben auf noch ein selber gewebtes weißes Stück Linnen. Dann lief sie dem Bergmännchen nach, dem Wetterhorn zu. Halber Mond stand am Himmel. Der Weg war weit und beschwerlich. Endlich gelangten sie zu einer Felsenspalte. Die Frau musste sich bücken. Der Höhleneingang führte immer tiefer in den Berg hinein. Weit hinten strahlte ein blauer Lichtstrahl auf. Nach und nach wurde der Gang breiter und höher und die Menschenfrau konnte sich wieder aufrichten. Der Felsengang endete in einem weiten Felsensaal. Es schien der Frau, dass eine ganze Dorfkirche darinnen Platz hätte. Wie glitzerten von allen Wänden wunderbare Bergkristalle! Im bläulichen Lichte gewahrte sie überall ein Gewusel von Bergmännchen, die behend zur Seite sprangen, um der großen Menschenfrau Platz zu machen.
Sie wurde seitab in ein Kristallgemach geführte, und konnte endlich der Zwergenkönigin und ihrem Neugeborenen helfen. Der kleinen Zwergenprinzessin schenkte sie das selber fein gewobene Stück Linnen. Die Bergleute zeigten sich überaus freudig und dankbar.. Als die Mühlenbachfrau nun die Zwergenmutter und das Kind gehegt und gepflegt hatte, wollte sie wieder heimkehren. Eine dankbare Schar von Zwergen begleitete sie dem Ausgang der Höhle zu.
Beim Hinausgehen bemerkte die Frau, dass ihr ab und zu ein Männchen etwas in den Korb warf, den sie am Arm trug, so dass er immer schwerer an ihrem Arm hing. Es sah aus wie Steine oder Kohlen. Als ein solches Stück aus dem Korbe heraus fiel, stürzten gleich mehrere Männchen herbei und legten es wieder hinein. Eines rief:
«Je mehr du verzettest, je weniger du hättest!»
So kamen sie vor den Höhleneingang. Die Bergmännchen dankten noch einmal und nahmen Abschied von der Mühlenbachfrau. Im Weiterlaufen wurde ihr der Korb am Arm immer schwerer und lästiger. Als sie einmal über einen Stein stolperte und fast alle Brocken heraus fielen, bückte sie sich nicht danach sie wieder einzusammeln. Zu Hause schüttelte sie den kleinen Rest auf die Feuerplatte des Herdes. Sie begab sich in ihre Kammer um sich schlafen zu legen, sie war sehr müde.
Am anderen Morgen, als sie im Kochherd Feuer anfachen wollte, ihre Milch zu wärmen, was sah sie da auf der Herdplatte? Ein Häufchen goldglänzender Steine lachte sie an. Sie nahm einige Stückchen auf die Hand. Es war pures, schweres Gold! Ihr kam in den Sinn, wie sie auf dem nächtlichen Heimweg etliche der Brocken verschüttet hatte, lief den Weg noch einmal zurück um nach den Kohlen zu suchen. Doch wie sie auch herum späte auf den steinigen Halden, sie fand keine mehr, und auch der Felseingang war verschwunden.
Nun, die Mühlenbachfrau konnte von den ihr übriggebliebenen Goldklümpchen ihr windschiefes Häuschen wieder aufrichten lassen und das Dach bekam ganz neue Schindeln.
In mancher Nacht, wenn die Weberin wieder vor dem Webstuhl saß und webte, stand sie auf, trat ans Fenster und schaute hinüber zum Wetterhorn, wo der Gletscherbach in die Nacht rauscht, und dachte: Ob wohl jemals wieder ein Bergmännchen kommt und mich holt? Doch es kam keines mehr; denn eine Zwergenprinzessin wird wohl nur alle hundert Jahre einmal geboren.

 

Aus: Jacob Streit, Von Zwergen und Wildmannli, Schweizer Jugendschriftwerk, Fassung, Urla Hagedorn

 Märchenforum Nr. 49

 

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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