Heute umspielen die Wasser kosend den Blutturm, dessen Fuss tief im Aareboden verankert ist. Früher aber, wenn die hohen Eisklötze den Fluss hinunter sich wälzten, tosend übereinander rollten und -stürzten, Brücken und Stege bedrohten, den Lauf des Wassers hemmen zu wollen schienen, dann schrie und brüllte es um den runden Turm herum. Dann ritten seine Toten auf den Eisklötzen bis zu ihm hinab, und das Tosen des eisstarrenden Wellenganges wurde von ihrem Klagen über ihr heimlich gemordetes Leben übertönt.
Junge und Alte, Männer und Frauen, Jünglinge und Jungfrauen - sie alle finden sich wieder bei ihm ein. Sie alle, die den langen, finstern Gang, der von der Stadt aus zu ihm hinunterführte, hatten gehen müssen, um, ohne sich verteidigen zu können, oftmals ohne zu wissen warum, in der Dunkelheit der Nacht in die dumpfgurgelnden Aarewellen hinausgeworfen zu werden.
Man erzählt sich, dass in dem runden Turm nichts war auf dem Boden als ein grosser, runder Deckel mit einem Eisenring. War der Todeskandidat den unterirdischen Gang hindurch bis zu ihm hingeführt und geschleift worden, dann öffnete sich der Deckel, und auf seiner Innenseite wurde ein mit Blut geschriebener Spruch sichtbar: «Mensch, du musst sterben.» Und kaum hatte das Opfer ihn entziffert, so erhielt es auch sogleich einen Stoss von hinten, der es in die Tiefe, die der Deckel barg, hinunterstürzte. «Gnad mir Gott!» hatte es vielleicht noch rufen können. Dann vernahm man einen furchtbaren Schmerzensschrei. Hunderte von scharfen Messern hatten seinen Leib aufgefangen, der dann zerschnitten und zerschunden in die Aare stürzte. Noch lange schwamm ein breiter roter Streifen auf den Wellen des Flusses und vermengte sich erst viel weiter unten mit den übrigen Wassern.
Aus: Hedwig Correvon, Gespenstergeschichten aus Bern, Langnau 1919
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch